Neferets Fluch ( House of Night Novelle )
gut aus – überhaupt nicht mehr dünn und bleich!«
»Nein, überhaupt nicht bleich!«, hatte Evelyn zugestimmt. »Du bist so schön wie immer.«
»Danke, Evelyn. Ich habe euch alle so vermisst.« Ich zögerte, doch dann überwog der Drang, mich jemandem anzuvertrauen, der kein Bediensteter war – oder mein Vater. »Es war so schwer für mich, seit Mutter nicht mehr da ist. Wirklich schwer.«
Camille nagte an ihrer Unterlippe. Evelyn sah aus, als wäre sie kurz davor, in Tränen auszubrechen. Hastig wischte ich mir die Wangen mit dem Handrücken ab und schaffte es, wieder zu lächeln. »Aber nun, da ihr beiden hier seid, ist mir viel leichter zumute als in all diesen Wochen und Monaten.«
»Genau das war unsere Absicht. Mutter versuchte mich zu überzeugen, dass du viel zu beschäftigt seiest, um an so etwas wie Fahrradfahren zu denken, aber ich habe mir geschworen, nicht auf sie zu hören und dich trotzdem zu fragen«, sagte Camille.
Evelyn schlug die Augen zum Himmel. »Deine Mutter ist immer viel zu ernst. Das weiß doch jeder.«
»Ich glaube nicht, dass sie je jung war«, sagte Camille, worauf wir alle kichern mussten.
Ich kicherte immer noch vor mich hin, als ich aus dem Salon lief, entschlossen, so schnell wie möglich meine Radfahrkleidung anzuziehen, da rannte ich geradewegs in Vater hinein.
Der Aufprall nahm mir die Luft und trieb mir die Tränen in die Augen.
In Vaters Gesicht schien sich eine Gewitterwolke zusammenzubrauen. »Was stürmst du in solch unkultivierter Weise aus dem Salon, Emily?«
»E-entschuldige, Vater«, stotterte ich. »Camille Elcott und Evelyn Field sind gerade zu Besuch und haben angefragt, ob ich mit ihnen über Mittag mit dem Fahrrad an den Strand fahre. Ich hatte es nur eilig, mich umzukleiden.«
»Fahrradfahren ist hervorragend für das Herz und sorgt für eine starke Konstitution; allerdings missfällt es mir zutiefst, wenn junge Leute diese Tätigkeit ohne die Aufsicht von Erwachsenen ausüben.« Erst als sie sprach, bemerkte ich die hochgewachsene Frau, die mit Vater im Foyer stand. Ich war so überrumpelt, dass ich nur sprachlos dastehen und sie anstarren konnte. In ihrem tiefblauen Kleid und dem Hut mit den Pfauenfedern war sie eine durchaus beeindruckende Erscheinung, doch keine, die ich irgendwoher wiedererkannt hätte. Gern hätte ich erwidert, dass mir alte Damen mit bombastisch gefiederten Hüten zutiefst missfielen, aber natürlich hielt ich den Mund.
»Emily, erinnerst du dich nicht an Mrs. Armour?«, drängte Vater. »Sie ist die Vorsitzende der General Federation of Women’s Clubs.«
»Oh, natürlich, Mrs. Armour. Verzeihen Sie, dass ich Sie nicht erkannt habe.« Nun, da Vater ihren Namen genannt hatte, kam dieser mir bekannt vor, nicht aber die Frau selbst. »Und – und ich entschuldige mich auch für meine Hast«, fuhr ich schnell fort. »Ich möchte nicht unhöflich erscheinen« – ich drehte mich um und machte eine Geste in Richtung des Salons, wo Camille und Evelyn saßen und die Szene mit unverhohlener Neugier verfolgten – »aber wie Sie sehen, warten meine Freundinnen auf mich. Vater, ich werde nach Mary schicken, damit sie Mrs. Armour und dir einen Tee in dein Studierzimmer bringt.«
»Sie missverstehen mich, Miss Wheiler. Nicht Ihrem Vater, sondern Ihnen gilt mein Besuch.«
Ich war völlig verwirrt, und ich fürchte, dass ich die alte Dame recht blöde anstarrte.
Vater aber war keineswegs verwirrt. »Emily, Mrs. Armour möchte mit dir über deine ererbte Position in der GFWC sprechen. Deine Mutter war der Federation leidenschaftlich zugetan. Ich erwarte, dass auch du dich ihr mit Leidenschaft widmest.«
Meine Verwirrung legte sich, als mir einfiel, woher mir der Name Armour bekannt vorkam. Philip Armour war einer der reichsten Männer in Chicago, und den größten Teil seines Vermögens hatte er Vaters Bank anvertraut. Ich wandte mich zu Mrs. Armour um, zwang mich zu lächeln und sprach so weich und beschwichtigend, wie Mutter immer geklungen hatte. »Es wäre eine Ehre für mich, Mutters Position im GFWC zu erben. Vielleicht könnten wir einen Termin ausmachen, an dem ich zu Ihnen in die Markthallen komme und –«
Plötzlich schloss sich Vaters Hand um meinen Ellbogen. Während er zudrückte, befahl er: »Du wirst hier und jetzt mit Mrs. Armour sprechen, Emily.« Gegen meine Sanftmut erschien Vaters Ton ausgesprochen kriegerisch. Camille wie auch Evelyn sogen angesichts seiner Grobheit scharf die Luft ein.
Camille
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