Neferets Fluch ( House of Night Novelle )
taugen, aber mit hie und da etwas Spitze oder Seide wird’s schon gehen.« Während sie weiter absteckte und -nähte, wanderte mein Blick zu meinem eigenen Kleid, das wie ein achtlos weggeworfener Haufen auf dem Bett lag. Es war cremefarben, verspielt und mit tiefrosa Rosenknospen und Spitze verziert, so verschieden von Mutters eleganten Samtgewändern wie Marys braune Leinenkluft von Lady Astors Tageskleidern.
Sicher, damals wusste ich ebenso gut wie jetzt, dass ich entzückt über die große Bereicherung meiner Garderobe sein sollte. Mutter war eine der bestgekleideten Damen Chicagos gewesen. Doch als mein Blick wieder in den Spiegel fiel, kam mir das ins Kleid ihrer Mutter gehüllte Mädchen dort vor wie eine Fremde. Ich, Emily, schien irgendwo in diesem unvertrauten Spiegelbild verloren gegangen zu sein.
Wenn ich mich nicht mit der Köchin beriet oder für die Abnäherei Modell stand oder mich bemühte, mich an die tausend Details der leichten Konversation zu erinnern, die Mutter scheinbar mühelos beherrscht hatte, wanderte ich schweigend durch unser großes Haus und versuchte zu vermeiden, Vater oder jemand anderem zu begegnen. Seltsam, dass unser Haus mir erst jetzt so riesig vorkam, da Mutter es nicht mehr ausfüllte. Ohne sie war es zu einem riesigen Käfig geworden, gefüllt mit all den schönen Dingen, die sie zu Lebzeiten gesammelt hatte, einschließlich ihres einzigen lebenden Kindes.
Lebend? Vor jenem Mittwoch war ich nahe daran zu glauben, ich hätte aufgehört zu leben und nur noch meine sterbliche Hülle vegetierte vor sich hin, bis endlich auch sie begreifen würde, dass mein Ich bereits tot war. Wie durch ein Wunder war genau das der Zeitpunkt, zu dem Arthur Simpton mich ins Leben zurückholte!
Heute Abend, am Mittwoch, dem 19. April, ließ Vater mir ein Glas Wein hinauf in mein Ankleidezimmer schicken, wo Mary mir half, mich für meinen ersten Abend als Dame des Hauses herzurichten. Ich wusste, der Wein kam direkt aus den Flaschen, die Vater eigens aus dem Keller hatte holen lassen, und war daher ungewässert und stark. Während Mary mein dichtes kastanienbraunes Haar kämmte und aufsteckte, trank ich ihn in kleinen Schlucken.
»So ein achtsamer Mann, Ihr Herr Vater«, plauderte Mary munter. »Wärmt mir grad’ das Herz, jawohl, wie er sich um Sie sorgt und kümmert.«
Ich reagierte nicht. Was hätte ich auch sagen sollen? Es fiel mir nicht schwer, Vater und mich durch ihre Augen zu betrachten. Natürlich erschien er nach außen hin fürsorglich und bekümmert – niemand außer mir hatte je seinen brennenden Blick gesehen oder die unerträgliche Hitze seiner Hand gespürt!
Als die Frisur vollendet war, trat Mary zurück. Ich erhob mich aus dem Sessel neben meinem Frisiertisch und ging zu dem großen Wandspiegel. Niemals werde ich vergessen, wie ich mich zum ersten Mal als erwachsene Frau erblickte. Der Wein hatte meine Wangen gerötet, was leicht geschieht, da meine Haut hell ist, so hell, wie die von Mutter war. Das Kleid passte, als hätte es schon immer mir gehört. Es hatte genau die Farbe unserer Augen.
Verzweifelt starrte ich hin und dachte: Ich bin meine Mutter. Im selben Moment flüsterte Mary: »Sie sehen ihr so ähnlich. Als tät’ man einen Geist sehen«, und sie bekreuzigte sich.
Da klopfte es an der Tür, und Carsons Stimme ertönte: »Miss Wheiler, Ihr Vater lässt ausrichten, dass die ersten Herren eingetroffen sind.«
»Ja. Gut. Ich komme sofort.« Doch ich bewegte mich nicht. Ich glaube nicht, dass ich mich hätte rühren können, hätte nicht Mary mir sanft die Hand gedrückt und gesagt: »Na, na, das war närrisch von mir, so zu reden. Geist Ihrer Mutter, was sag ich da! Natürlich sind Sie das nicht. Nur ein reizendes Kind, das ihr alle Ehre macht. Ich werd heut Nacht eine Kerze anzünden und beten, dass ihr Geist über Sie wacht und Ihnen Kraft gibt.« Dann öffnete sie mir die Tür, und mir blieb keine Wahl, als das Zimmer und meine Kindheit hinter mir zu lassen.
Der Weg von meinen Räumen im zweiten Stock – meinem Schlafzimmer und dem Salon, der einst als Spielzimmer für viele Kinder angelegt worden war, die nie geboren werden sollten – nach unten war lang, doch es schien nur einen Augenblick zu dauern, bis ich den letzten Treppenabsatz über dem Foyer erreichte. Dort hielt ich inne. Die tiefen Männerstimmen, die zu mir heraufschallten, klangen seltsam unpassend in diesem Haushalt, in dem so viele Wochen lang Stille geherrscht hatte.
»Ah, da bist
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