Nehmt Herrin diesen Kranz - Schacht, A: Nehmt Herrin diesen Kranz
Sonntag einen knusprigen Gänsebraten geben.
Leocadie suchte mit kundiger Hand die langen, starken Federn heraus, deren Kiele man anspitzen und als Schreibgeräte verwenden konnte, doch wie üblich tat sie es schweigend und beteiligte sich nicht an dem Geplapper der anderen.
Alyss machte sich Sorgen um sie. Sie war blass und mager geworden und verbrachte viel zu viel Zeit im Gebet. Von ihrer Absicht, ins Kloster zu gehen, hatte sie nicht mehr gesprochen, aber dieses Problem war noch nicht ausgestanden. Doch andere Dinge waren wichtiger. Marians Schwäche hatte sie wieder einmal nachdenklich gemacht. War es wirklich eine kluge Entscheidung, dass er ein Heiler werden wollte? Noch im Frühjahr hatte sie seinen Entschluss unterstützt. Damals, als er nach langer Krankheit wieder genesen war und ihren Eltern verkündet hatte, nicht das Erbe des großen Handelshauses
anzutreten. Doch nun zweifelte sie mehr und mehr daran. Ob sie ihn jedoch bewegen konnte, seinen Weg zu ändern, bezweifelte sie. Ihr Bruder mochte körperlich kein großer, kräftiger Mann sein, er war von zierlichem, wenn auch wohlgestaltem Knochenbau und hatte seine ganz eigene Zähigkeit entwickelt. Sein Geist und sein Wille aber übertrafen diese Zähigkeit noch bei Weitem. Man konnte ihn guten Gewissens auch für stur halten. Sie hatte Catrin gebeten, auf ihn einzuwirken. Wenn, dann war es ihre sanfte Art, der es gelang, ihn zum Umdenken zu bringen.
Am heutigen Freitag hatte er den Beginenhof verlassen und war in sein Elternhaus zurückgekehrt. Dass ihn dort zwar nicht ein Donnerwetter, wohl aber stille Ermahnung erwartete, wusste er. Alyss vermutete stark, dass er sie im Laufe des Tages aufsuchen würde, um sein Leid darob zu klagen.
John war geschäftig – das Ende der Messewoche war gekommen, und in dem Tuchlager wurden beständig Ballen abgeholt und andere, welch Inhalts auch immer, untergebracht. Frau Mechtild, die gute Beziehungen zu den Frauenzünften pflegte, den Seidenweberinnen und Harnischmacherinnen, hatte John auf deren begehrte Produkte hingewiesen. Kölner Harnische waren in der ganzen bekannten Welt beliebt, und die kostbar bestickten Seiden wurden allerorts vom Klerus begehrt. Er würde gute Gewinne damit erzielen.
Sie konnte John keinen Vorwurf machen, dass er sich nicht weiter um die Suche nach der Brautkrone kümmerte – seinen Handel zu treiben, dazu war er nach Köln gekommen. Dann und wann hatte er auch Tilo schon zu den Kaufleuten mitgenommen, um ihm einen Eindruck von seiner Tätigkeit zu vermitteln. Tilos Eltern hatten inzwischen zugestimmt, dass
ihr Sohn die Reise nach England mitmachen durfte, was die Laune des jungen Mannes überaus beschwingte. Seine Miene wurde nicht mehr ganz so schafsgesichtig, wenn er die schöne Leocadie betrachtete.
Um die Mittagszeit war das Federvieh gerupft, und kaum waren die Schüsseln mit fetter Kohlsuppe geleert, da klopfte Stina an die Tür. Die stämmige Sechzehnjährige war die Tochter der Adlerwirtin Franziska, und Alyss empfing sie mit einem freundlichen Gruß. Stina blieb höflich, aber kühl. Sie hatte Alyss noch immer nicht ganz verziehen, dass sie ihre Verbindung zu Yskalt unterbunden hatte. Aber nun hatte sie eine Botschaft ihrer Mutter vorzubringen, und der hörte das Hauswesen mit gebannter Aufmerksamkeit zu.
»Der Kappesbauer hinter der Schmiede, der hat gerade im Februar seinen Sohn verloren. Die Kälte und das Winterfieber haben ihn dahingerafft. Armer Kerl der, war erst fünf Jahre alt und ihr einzig Überlebender.«
Alyss spürte wieder den Stich der Trauer um ihren eigenen Sohn. Doch das Schicksal, das Stina da umständlich schilderte, war kein ungewöhnliches. Die Bauersfrau war monatelang trübsinnig gewesen, doch nun sei sie wieder ganz guter Dinge und scherze und lache von neuem. Weil – und nun merkten alle auf – sie einen kleinen ausgesetzten Jungen aufgenommen hatte.
»Ausgesetzt, aha«, sagte Alyss. »Und dieser Junge hat blonde Locken und das Gesicht eines Engels?«
»Ja, ein hübscher Knabe, sagt sie, und so gewitzt. Nur vor den Hühnern hat er Angst.«
»Wer hat ihn denn ausgesetzt?«
»Seine Sippe, die Fahrenden und Spielleute, die neulich in
der Stadt waren. Sie wollten ihn nicht mehr bei sich haben, weil die Büttel immer hinter ihm her waren, um ihn einzufangen und an die Reichen zu verkaufen.«
»Was für ein Blödsinn. Und das glaubt die Bauersfrau?«
Stina nickte.
»Kann doch sein, Frau Alyss. Mutter sagt, die Büttel sind zu allem fähig
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