Neid: Thriller (Opcop-Gruppe) (German Edition)
die Stadt einführen wollte – denn nur dort war der Handel erlaubt –, war man gezwungen, Steuern dafür zu bezahlen. Den zweiunddreißigsten Teil des Warenwertes. Die Zolleinnahmen gingen direkt ans Heer.
Stockholm liegt zwischen einem Binnensee und dem Meer, zwischen dem Mälaren im Westen und der Ostsee im Osten. Dort wurden die Hafenzölle eingeführt. Von Norden nach Süden konnte man relativ ungehindert das Land durchqueren, dort gelang es den Bauern, ihre Waren an den Zollstationen vorbeizuschmuggeln, die an den Landstraßen aufgestellt wurden. Also war man gezwungen, die Grenzzäune um die Städte im Norden und Süden höher zu bauen. Der einzige Weg in die Stadt führte durch den Zoll.
Die Zollstationen blieben erhalten, auch nachdem der Glanz der Großmacht schon längst erloschen war. Aber sie bekamen eine neue Funktion zugewiesen. Sie wurden die natürlichen Grenzen zwischen Innenstadt und Vorort, zwischen der »Stadt innerhalb der Zollgrenze« und der »Stadt außerhalb der Zollgrenze«. Im Norden gibt es Norrtull und Roslagstull, im Süden Danvikstull, Skanstull und Hornstull. Keiner dieser Orte genießt einen besonders guten Ruf. Sie sind Verkehrsknotenpunkte, an denen sich die Autos jeden Tag stauen, um in die Innenstadt zu gelangen oder sie wieder zu verlassen. Alle ehemaligen Zollstationen sind ziemlich heruntergekommen, aber am schlimmsten von allen ist Hornstull.
Zumindest war es sehr lange so. Der Stadtteil Knivsöder war das letzte Viertel mit einem solide verankerten schlechten Ruf. Es war ein Zufluchtsort für Gauner, Obdachlose und Junkies. Aber dann geschah etwas. Die wachsende Mittelschicht, vor allem die Medienleute, entdeckten Hornstull für sich. Sie entdeckten Knivsöder, Bergsunds strand und Hornstulls strand und die attraktive Nähe zu den Inseln Reimersholme und Långholmen. Der Gentrifizierungsprozess nahm seinen Lauf. Es wurde teuer, in Hornstull zu wohnen, und die ursprünglichen Bewohner – Gauner, Obdachlose und Junkies – wurden vertrieben. Und plötzlich erkannten alle, wie absurd hässlich die Gegend um die U-Bahn-Station war. Es musste etwas getan werden.
So kam es auch. Innerhalb von zwei Jahren sollte Hornstull von Grund auf verändert werden. Aus den Ruinen mit den dreckigen, nach Urin stinkenden Treppen und den verschmierten Pennerbänken sollte ein moderner, schön gestalteter Platz werden und in neuem Glanz erstrahlen. Am 9. Mai erfolgte der erste Spatenstich, um das neue Hornstull zu errichten.
Da er zu diesem Zeitpunkt verreist war – ein bedeutsames Datum, an dem so einiges seinen Anfang nahm –, hatte er ein wenig den Anschluss verpasst. Das war jetzt zwei Monate her, und beinahe jeden Tag sah die Gegend um die Långholmsgatan anders aus. Neue Fußgängerwege, neue Verkehrsberuhigungszonen, neue Balanceakte in Sachen Geschmack, neue Verkehrsstaus, neue Bettler.
Ihn interessierte das zwar alles nicht besonders. Aber er benötigte einen sehr genauen Plan, wenn der gestrige Zwischenfall nicht nur in seiner Phantasie stattgefunden hatte. Denn das nächtliche Telefonat hatte er sich definitiv nicht eingebildet – er hatte das Handy unmittelbar danach ausgeschaltet –, und wenn diese beiden Ereignisse zusammenhingen, dann durfte er keine Schwierigkeiten haben, sich am U-Bahnhof-Eingang zurechtzufinden.
Er stand reglos am Wohnzimmerfenster, während die letzten Zeichnungen auf sein Handy geladen wurden. Durch eine dicke Schicht diesiger Morgensonne hindurch wanderte sein Blick über Hornstulls strand. Das schwimmende Gebäude des Liljeholmsbadet dümpelte friedlich in den sanften Wellen der Bucht. Das eine oder andere Boot glitt vorbei, entweder mit dem Ziel Mälaren oder in Richtung Ostsee. Diese Postkartenidylle war ein Hohn.
Wie ein Bild aus einer anderen Epoche.
Für einen kurzen Augenblick reiste er in die Vergangenheit, in seine Kindheit im dänischen Ebeltoft. Dünen, Segelboote, das lange Rasenstück, das vom Sommerhaus seines Großvaters bis hinunter ans Wasser reichte. Das Glücksgefühl auf dieser kurzen Strecke, die Erinnerung an das Gras unter den Füßen, dann den Sand und dann das Meer ...
Es gab drei Möglichkeiten. Nummer eins: Er konnte Brüssel kontaktieren – das wäre eine drastische Maßnahme, die viele Brücken hinter ihm niederbrennen würde. Nummer zwei: Er konnte sich ein Taxi rufen. Nummer drei: Er konnte jeden Kontakt zur Außenwelt abbrechen. Dann würde er allerdings niemals erfahren, wie es weiterging. Und
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