Neid: Thriller (Opcop-Gruppe) (German Edition)
dem Doppelbett, das er sich mit seiner Frau Felipa teilte – sie schlief noch tief und fest –, und ging hinüber zum Gitterbett. Der Junge schrie nicht. Kein Laut kam über seine Lippen. Er hatte sich auf den Bauch gedreht, die Gitter mit den Händen gepackt und versuchte, sich hochzuziehen. Eigentlich hätte er vor Anstrengung und Enttäuschung schreien müssen. Wie Babys das nun einmal tun. Denn schreien konnte sein Sohn. Diesbezüglich war er gesund. Aber er hatte offensichtlich einfach beschlossen, nicht zu jammern, während er sich nach oben in den Stand kämpfte. Es wirkte tatsächlich wie eine bewusste Entscheidung.
In diesem Augenblick traf auch Felipe Navarro eine Entscheidung, nämlich die, sich nicht zu erkennen zu geben. Er wusste, wie schwer das war – der Junge hörte alles –, aber er gab sein Bestes. Und offenbar war das Kind zu sehr mit seinem Vorhaben beschäftigt, als dass es hätte weinen oder hören können. Es kämpfte wie ein Wilder. Felipe ging in die Hocke und beobachtete diesen Kampf. Er hatte etwas Biblisches, Mystisches. Das war ein jahrtausendealtes Streben, das kurz vor dem Gelingen stand. Felipe sah die Anspannung in den kleinen Muskeln, es bereitete ihm beinahe einen physischen Schmerz. Wie der Schlussspurt beim Marathonlauf. Oder wie die Geburt eines Kindes.
Nichts würde jemals eine größere Bedeutung für ihn haben.
In diesem Augenblick hatte sich der Junge hochgezogen. Er stand zwei Sekunden lang aufrecht, dann kippte er nach hinten um und schlug mit dem Kopf gegen die Gitterstäbe. Aber auch jetzt weinte er nicht. Er krabbelte einfach nur über die zusammengeknüllten Laken zurück. Felipe meinte in seinem Blick – seinem Blick – so etwas wie Stolz lesen zu können.
Wahrscheinlich war die Blindheit des Jungen auch deshalb so schwer zu begreifen, weil er alle menschlichen Regungen zeigte. Womöglich sogar auf intensivere Weise.
Er schlich näher und sah, wie der Junge den Kopf drehte, um ihn auf seine Art anzusehen. Mit dem Gehör und etwas anderem. Etwas Ungreifbarem.
»Félix«, flüsterte er. »Papa ist hier.«
Und selbst wenn er sich das Lächeln auf den Lippen seines Sohnes nur einbildete, mit dieser Lüge konnte er leben.
Als er mit Félix auf dem Schoß auf der Bettkante saß und die Sonne immer kräftiger durch die Jalousie schien, war Felipe Navarro der glücklichste Mensch auf der Welt.
Genau in diesem Moment sprang am anderen Ende von Den Haag eine nach wie vor namenlose Katze in ein Bett. Das war mittlerweile zur Gewohnheit geworden. Sie legte vorsichtig eine Tatze auf das Ohr dieses merkwürdigen Wesens, mit dem sie sich die Wohnung teilte, und wartete ab. Wenn es keine Reaktion gab, ließ sie das Wesen ganz leicht ihre Klauen spüren. Früher oder später zuckte es dann zusammen und hob eine Hand ans Ohr – wie um eine Mücke zu verscheuchen. Aber da war die namenlose Katze schon längst wieder vom Bett gesprungen und sah das Wesen mit einem unschuldigen Blick an. Der möglicherweise »Hunger« bedeutete.
Allerdings registrierte die Katze an diesem Morgen mit einer gewissen Verwunderung, dass der Kopf des Wesens nicht an seinem üblichen Platz lag. Und das Wesen, das mit gesenktem Kopf auf der Bettkante saß, beachtete den bettelnden Blick der Katze überhaupt nicht.
Jutta Beyers Gedanken kreisten nämlich um etwas anderes. Sie dachte an den zwölfjährigen Chinesen Liang Zunrong. Noch nie hatte sie der Anblick eines leblosen Körpers so mitgenommen. Sie fühlte sich schuldig und verfluchte das Paar Hjelm und Holm, das sie erst in einen dunklen Küchenschrank von lebensgefährlichen Gangstern gebracht und sie dann auf eine Verfolgungsjagd geschickt hatte, die ohne ihr Eingreifen garantiert nicht mit einem ermordeten Kind geendet hätte.
Sie fühlte sich miserabel. Aber als sie schließlich den bettelnden Blick ihrer Katze registrierte, durchströmte sie eine Welle der Zuneigung. Sie hob das Tier hoch und flüsterte ihm ins Ohr: »Zunrong.«
Da sich die bis dahin namenlose Katze nicht gegen den männlichen chinesischen Vornamen wehrte, sondern sich sogar schnurrend auf ihrem Schoß zusammenrollte, war es für Jutta Beyer entschieden. Ihre Katze hatte soeben einen Namen erhalten.
Jutta Beyer stand auf, schüttelte die Reste der nächtlichen Angst ab und sagte laut: »Jetzt gibt es was zu futtern, Zunrong!«
Zu diesem Zeitpunkt war es bereits sieben Uhr morgens, und der Wecker hatte schon zum vierten Mal in der Junggesellenbude von Paul
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