Nekropole (German Edition)
so nahe war.
»Wie sieht es da unten aus?«, drang eine Stimme aus der Höhe zu ihnen. »Habt ihr Ayla gefunden?«
»Dunkel«, knurrte Abu Dun, den zweiten Teil von Hasans Frage geflissentlich überhörend. Ein Seil, das bei genauerem Hinsehen nur aus mehreren aneinandergeknoteten Tüchern bestand, fiel zu ihnen herab und hätte ihn, wild hin und her pendelnd, um ein Haar im Gesicht getroffen.
Abu Dun schlug es mit einem ärgerlichen Laut beiseite. »Lasst den Unsinn«, sagte er. »Wollt ihr euch die Hälse brechen? Ich baue euch eine Leiter!« Etwas leiser fügte er und an Andrej gewandt hinzu: »Sieh nach Kasim. Ich glaube, er lebt noch.«
Andrej drückte sich behutsam auf Hände und Knie hoch und kroch in Richtung der schweren Atemzüge. In der Tat, sie gehörten Kasim, genau wie die immer heller auflodernde Angst, doch daran verschwendete Andrej kaum einen Gedanken, obwohl er weiterkroch und mit der unversehrten Hand nach Kasim tastete. Wieso hatte es erst Hasans Frage bedurft, um ihn wieder daran zu erinnern, warum sie hier waren? Ayla war hier irgendwo, und er musste sie finden!
Das Problem war nur, dass er es nicht konnte. Er hörte zwar Kasims qualvolle Atemzüge und das rasende Hämmern seines Herzens, und er spürte seine bloße Anwesenheit. Doch Ayla spürte er nicht, ebenso wenig wie er ihren Herzschlag oder ihren Atem hörte.
Panik wollte seine Gedanken überrollen und prallte an der Mauer seines Willens ab, aber ein zweites Mal wäre es ihm vielleicht nicht mehr gelungen, hätten seine tastenden Finger nicht in diesem Moment Kasims Schulter berührt.
»Sie sind hier«, wimmerte Kasim. »Sie haben sie!«
»Wer?«
Abu Dun tat etwas, das mit einem gewaltigen Poltern endete, und Kasims Antwort – falls es überhaupt eine gegeben hatte – ging in dem Lärm der darauf herunterprasselnden Steinchen unter. Doch sie wäre auch gar nicht nötig gewesen. Von wem sollte Kasim wohl sprechen, wenn nicht von den grässlichen Geschöpfen, die Ayla in diese Hölle hinabgezerrt hatten?
Und es war Kasims Schuld!
Dieser verdammte Kerl war allein mit ihr hier unten gewesen, als diese Ungeheuer über sie hergefallen waren, und er hatte nichts getan, um sie zu beschützen! Aber er würde ihn dafür bezahlen lassen, mit seinem –
Abu Dun riss seine erhobene Faust mit seiner eisernen Hand zurück und schlug ihm mit der anderen so fest ins Gesicht, dass er auf den Rücken geschleudert wurde. Praktisch gleichzeitig setzte er ihm den Fuß auf die Brust und presste ihm auch noch das letzte bisschen Luft aus der Lunge. »Ich dachte, das hätten wir schon hinter uns«, sagte er kühl. »Oder brauchst du noch eine zweite Lektion? Sie könnte etwas härter ausfallen als die erste.«
Andrej hätte nicht einmal antworten können, wenn er es gewollt hätte, denn Abu Duns Fuß nagelte ihn nicht nur mühelos gegen den Boden, sondern hinderte ihn auch am Luftholen. Er spürte, wie ihm die Sinne zu schwinden begannen. Wollte Abu Dun ihn umbringen?
Im allerletzten Moment nahm Abu Dun den Fuß von seiner Brust und zog ihn so grob auf die Füße, dass er vor Schmerz aufgestöhnt hätte, hätte er nur den nötigen Atem dafür gehabt. Etwas bewegte sich in der Düsternis hinter dem Nubier, aber Andrejs Augen weigerten sich noch immer, ihm mit der gewohnten Schärfe zu dienen. Nach wie vor sah er nur Schatten.
»Sind wir uns einig?«, fragte Abu Dun.
Andrej konnte sich nicht erinnern, dass er eine Frage gestellt hatte, doch es erschien ihm klug, mit einem gehorsamen Nicken zu antworten. Abu Dun ließ ihn los und versetzte ihm dabei einen heftigen Stoß, sodass er erneut neben Kasim auf die Knie fiel. Der ehemalige Hufschmied wimmerte leise, obwohl er ihn noch nicht einmal berührt hatte.
Hinter Abu Dun war plötzlich eine Gestalt, und Andrej erkannte erst jetzt, dass der Nubier seine Ankündigung wahrgemacht hatte – auch wenn seine
Leiter
lediglich aus einem halb versteinerten Balken bestand, den er an den Rand des Lochs gelehnt hatte, sodass man daran herabgleiten konnte. Auch wenn dazu gewiss eine Menge Geschick nötig sein musste, war Hasan doch als Erster zu ihnen herabgestiegen. Selbst in der Düsternis konnte Andrej erkennen, dass sein Gesicht grau vor Sorge war.
»Wo ist Ayla?«, sprudelte er augenblicklich los. »Ist ihr etwas geschehen? Wie geht es ihr?« Ohne eine Antwort abzuwarten – die er vermutlich ohnehin nicht gehört hätte – wollte er an Andrej vorbeistürmen, doch Abu Dun hielt ihn unsanft
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