Nekropole (German Edition)
hatte, das augenscheinlich für ganz besonders hochrangige Gäste bestimmt war, so hatte er doch angenommen, ganz in der Nähe Hasans – Clemens’ – und der anderen zu sein. Jetzt kam es ihm so vor, als ob sie das riesige Gebäude einmal zur Gänze durchquerten. Das Licht vor den hohen Fenstern war grau geworden, und die Farben begannen bereits zu verblassen.
»Wohin habt ihr das Mädchen gebracht?«, fragte Abu Dun, kurz bevor sie ihr Ziel erreichten.
»Es geht ihr gut, antwortete Ruetli. »Seine Hei …« Er unterbrach sich mitten im Wort, wirkte plötzlich hilflos und benötigte drei Schritte, bevor er neu und mit veränderter Stimme wieder ansetzte. »Sie war sehr erschöpft. Es wurde befohlen, sich gut um sie zu kümmern und ihr alle Wünsche zu erfüllen.«
»Außer sie freizulassen oder sie zu uns zu lassen«, vermutete Abu Dun.
»So ist es«, bestätigte der Hauptmann. Abu Dun machte ein zweifelndes Gesicht, aber Andrej wusste, dass der Hauptmann die Wahrheit gesagt hatte. Wie oft in letzter Zeit spürte er es auch jetzt wieder erst im Nachhinein, dafür aber mit Gewissheit: Ayla war wohlauf und ganz in der Nähe. Ihre Anwesenheit war wie ein wärmendes Licht in einer sturmgepeitschten Winternacht, und er spürte, wie ruhig diese Flamme brannte. Zwischen ihnen war eine ganz besondere Verbindung, die Abu Dun niemals verstehen würde. Sie war von Anfang an da gewesen, er hatte nur bis jetzt gebraucht, um es zu begreifen.
»Ihr wird nichts geschehen«, fügte Ruetli unaufgefordert hinzu. »Wir haben Befehl, sie mit unseren Leben zu beschützen, wenn es sein muss.«
Abu Dun seufzte. »Mit euren Leben«, wiederholte er. »Wie beeindruckend. Gibt es irgendetwas in diesem ganzen Bau, das ihr nicht mit euren Leben beschützen müsst?«
Ruetli dachte einen Moment angestrengt nach. »Ja«, sagte er dann. »Besucher aus dem Morgenland.«
Abu Dun sah ihn verdattert an, doch dann warf er den Kopf in den Nacken und begann schallend zu lachen. Er versetzte dem Soldaten einen freundschaftlichen Klaps auf den Rücken, der ihn um ein Haar von den Füßen geholt hätte. »Du gefällst mir, kleiner Mann«, gluckste er.
Ruetli stolperte, fand seine Balance wieder und funkelte ihn an. »Nenn mich nicht kleiner Mann!«
»Aber warum nicht?«, erkundigte sich Abu Dun. »Du bist es doch.«
Ruetli war weise genug, auf eine Antwort zu verzichten, und wies mit einer ruppigen Geste nach vorne, wo eine kurze Treppe ein weiteres halbes Stockwerk nach oben führte. Andrej meinte ein sonderbares, an- und abschwellendes Raunen zu hören, konnte es aber nicht auf Anhieb einordnen. Es war auch nicht wichtig. Ayla war irgendwo dort vorne, und damit war es die richtige Richtung.
Am oberen Ende der kurzen Treppe angekommen, sahen sie zum ersten Mal weitere Gardisten, vier Männer mit ihren traditionellen Hellebarden und Schwertern, die aber zusätzlich mit modernen Musketen und doppelläufigen Steinschlosspistolen ausgerüstet waren, und jeweils zu zweit beiderseits einer schlichten Tür Aufstellung genommen hatten, die so gar nichts von dem vergoldeten Portal hatte, hinter dem er den Herrn dieses Kirchenpalastes vermutet hätte. Der Hauptmann machte eine rasche, kaum sichtbare Geste mit der Linken – sie ähnelte so verblüffend Hasans Art, seine Befehle zu geben, dass Andrej sich gar nicht erst fragen musste, von wem er sie sich abgeschaut hatte –, und die Wachen traten gehorsam beiseite und gaben den Weg frei. Andrej spürte, wie schwer es ihnen fiel.
»Wartet dort drinnen«, befahl Ruetli. »Seine Exzellenz wird gleich bei euch sein.«
»Einfach so?«, wunderte sich Abu Dun. »Ganz ohne Drohungen? Ohne uns zu teeren und zu federn oder uns wenigstens in Ketten zu legen?«
»Meinetwegen wartet auch hier draußen«, antwortete Ruetli schulterzuckend. »Ich habe Befehl, euch hierherzubringen, mehr nicht.«
»Wir warten dort drinnen«, sagte Andrej rasch, bevor Abu Dun etwas sagen konnte. »Und vielen Dank für Eure Begleitung, Hauptmann.«
Ruetli sah fast ein bisschen verblüfft aus, aber auch so, als klopfte er die Worte in Gedanken nach einer versteckten Beleidigung ab. Das Grinsen, das Abu Dun noch hinzufügte, war auch nicht gerade hilfreich. Schließlich aber beließ er es bei einem knappen Nicken und ging ohne ein weiteres Wort. Dass er dabei vergaß, seine vier Begleiter mitzunehmen, deren Finger nervös an ihren Waffen spielten, war gewiss nur ein Zufall. Ebenso wie die eindeutig befehlende Geste, mit der einer der
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