Nekropole (German Edition)
und ihn niedergeschlagen hätte. Möglicherweise hätte er es sogar getan, hätten Aylas Augen nicht in diesem Moment aufgeleuchtet wie zwei funkelnde Sterne am Nachthimmel. Mit einem kleinen Freudenschrei riss sie sich los, um ihm die zwei Schritte entgegen und so ungestüm in seine Arme zu eilen, dass sie ihn fast von den Beinen gerissen hätte.
»Du bist gekommen!«, jubilierte sie. »Ich habe gedacht, du hättest mich im Stich gelassen wie alle anderen. Aber du bist gekommen!«
Selbst wenn Andrej diesen Irrtum hätte klarstellen wollen (wofür er keine Veranlassung sah), hätte er es gar nicht gekonnt, denn Ayla klammerte sich so fest an seinen Hals, dass ihm die Luft abgeschnürt wurde. Mit sanfter Gewalt löste er ihre Hände aus seinem Nacken, setzte sie ab, richtete sich wieder auf und schob sie auf Armeslänge von sich, als sie Anstalten machte, sich sofort wieder an ihn zu drücken.
»Haben sie dich gut behandelt?«, fragte er, das Mädchen noch immer mit einer Hand auf Abstand haltend. »Hat man dir etwas getan?«
»Nein«, antwortete Ayla. »Aber sie haben mich eingesperrt, und niemand hat mir irgendetwas gesagt! Dabei wollte ich doch nur zu dir!«
Andrej lächelte sie beruhigend an, aber Aylas Worte verwirrten ihn. Nicht unbedingt
was
sie sagte, aber
wie
. Ihre Stimme war eine Spur höher, und sie sprach in einem weinerlichen Singsang, wie das verängstigte Kind, das sie nun ganz gewiss nicht war. Er tauschte einen verstohlenen Blick mit Clemens, bekam aber nur ein Schulterzucken zur Antwort.
»Das Mädchen ist hier«, sagte Altieri. »Also, was genau wolltet Ihr mir nun sagen, Guido?«
»Andrej«, sagte Abu Dun und winkte ihn heran. Rückwärts und ohne Altieri – und vor allem Ayla – aus den Augen zu lassen, trat er an Abu Duns Seite. Der Nubier öffnete den Spalt in den schweren Samtvorhängen etwas mehr und bedeutete ihm, hindurchzusehen. Andrej gehorchte und sah dasselbe wie gerade schon einmal, allenfalls, dass die Anzahl der Gläubigen dort unten ein wenig abgenommen hatte. Die Dunkelheit und fallenden Temperaturen der hereinbrechenden Nacht hatten den einen oder anderen wohl doch nach Hause getrieben, nachdem er gemerkt hatte, dass der Glaube allein vielleicht sein Herz erwärmte, aber nicht seine Glieder.
»Was?«, fragte er.
Abu Dun hob die Schultern. »Spürst du es nicht?«
Natürlich spürte er es. Das hatte er schon die ganze Zeit über getan, aber es hatte auch jetzt wieder erst Abu Duns Worte bedurft, um ihn das Offensichtliche sehen zu lassen. Etwas war hier, nicht erst jetzt, und es wuchs, entzog sich aber sowohl seinen normalen als auch seinen besonderen Sinnen. Die Dunkelheit zwischen den steinernen Kolonnaden schien eine Spur substanzieller geworden zu sein, die Schatten, die die marmornen Engelsflügel auf die wartende Menge warfen, waren auf einmal düster und bedrohlich, nicht beschützend. Aber es war vage, eine Bedrohung, die sich dem Entdecktwerden immer wieder entzog.
»Zeig ihm dein Gesicht, mein Kind«, sagte Clemens hinter ihnen.
Andrej und Abu Dun wandten sich erstaunt um und sahen, dass Ayla bis an den Kamin zurückgewichen war und die Hände abwehrend gehoben hatte. Mit erschrocken aufgerissenen Augen atmete sie so heftig ein und aus, dass sich die schwarze Seide vor ihrem Gesicht bauschte.
»Aber … warum?«
Das fragte sich Andrej auch. Altieri hatte Aylas Gesicht schon gesehen, in der vorangegangenen Nacht in der Engelsburg, und er meinte sich zu erinnern, dass es ihm nicht gefallen hatte. Ayla hob nun beide Hände vor das Gesicht, sodass nur noch das Weiß ihrer Augen zwischen ihren Fingern aufblitzte.
»Was soll das?«, fragte Andrej scharf. Was Clemens verlangte, machte Ayla Angst, und das allein reichte, dass sich etwas in ihm regte, tief in seinem Inneren.
»Es ist schon gut«, sagte Clemens. »Ayla weiß, dass es sein muss. Auch mir wäre eine andere Lösung lieber, aber uns bleibt keine Zeit mehr, vorsichtig zu sein.«
Aylas Blick wurde flehend, und Andrej sagte: »Tut das nicht.«
»Andrej«, seufzte Clemens, »du –«
»Ihr werdet sie zu nichts zwingen, was sie nicht will«, fiel ihm Andrej ins Wort. Seine Hand bewegte sich ohne sein Zutun dorthin, wo er normalerweise das Schwert trug. Seine Finger griffen ins Leere, doch niemandem im Raum entging die Bewegung. Abu Dun spannte sich neben ihm an.
»Andrej, du verstehst nicht«, sagte Clemens.
»Ich verstehe genug,« sagte Andrej. »Sie will das nicht, und das sollte dir
Weitere Kostenlose Bücher