Nekropole (German Edition)
genügen.«
»Und ich dachte, über diesen Punkt wären wir hinaus«, raunte Abu Duns Stimme an seinem Ohr. »Muss ich dich noch einmal verprügeln, bevor du Vernunft annimmst? Diesmal könnte ich ernst machen.«
Und er bildete sich wirklich ein, dazu in der Lage zu sein? Das war so grotesk, dass Andrej ihn keiner Antwort würdigte. Er streckte die Hand in Aylas Richtung. »Komm her.«
Ayla machte tatsächlich einen halben Schritt, doch Ali vertrat ihr den Weg. Abu Dun legte ihm seine mächtige Pranke auf die Schulter und schüttelte den Kopf. »Lass es, Hexenmeister.«
»Andrej, das ist jetzt wirklich nicht der richtige Moment, um –«, begann Clemens, da erscholl auf dem Platz unter ihnen ein so gellender Schrei, dass Abu Dun sofort wieder am Fenster war und den schweren Samtvorhang mit einer einzigen Bewegung gleich komplett herunterriss. Ein plötzlicher Luftzug fauchte herein und brachte die meisten Kerzen zum Erlöschen, und in dem wenigen verbliebenen Licht trat Abu Dun wie ein riesiger schwarzer Dämon auf den schmalen Balkon hinaus, auf dem die wartende Menge doch eigentlich den neuen Stellvertreter Gottes auf Erden erwartet hatte.
»Pirat, bist du – ?«, begann Andrej und brach dann erschrocken ab, als er neben dem nubische Riesen an die Balkonbrüstung trat. Vielleicht war es auch der zweite, jetzt vielstimmige Schrei, der ihm das Wort abschnitt.
Die Schatten auf der anderen Seite des Platzes waren lebendig geworden. Nicht einmal Andrejs scharfe Augen reichten aus, um ihn genau erkennen zu lassen, was geschah, doch seine außer Rand und Band geratene Fantasie war nur zu gerne bereit, die Details zu ergänzen, die seine Augen nicht sahen. Die Dunkelheit floss zwischen den kannelierten Marmorsäulen hervor und gerann zu reißenden Klauen und schnappenden Zähnen, und in die Angst-, und Entsetzensschreie mischten sich nun auch die ersten Laute furchtbaren Schmerzes. Selbst aus dieser Entfernung roch er das spritzende Blut und den süßlichen Gestank des Todes.
»Seid ihr von Sinnen, alle beide?«, polterte Altieri hinter ihnen. »Was tut ihr da? Was, glaubt ihr, passiert, wenn euch jemand dort sieht, und –« In diesem Moment war er neben ihnen angekommen, und seine Augen wurden groß, als er die Finsternis erblickte, die erbarmungslos und schnell wie eine Flutwelle über die Menschen hinwegspülte, kreischende Gischt aus verzweifelt Schreienden und Flüchtenden vor sich hertreibend und ein brodelndes Kielwasser aus Blut und abgerissenen Gliedmaßen hinterlassend. Die Schreie wurden lauter und verzweifelter, und ganz kurz und nur ein einziges Mal hörte Andrej über den Lärm hinweg das reißende scharfe Geräusch einer Klinge, die in moderndes Fleisch schnitt. An den Rändern des großen Platzes begannen die ersten Menschen panisch zu fliehen. Zu wenige und nicht schnell genug.
»Aber was – ?«, stammelte Altieri.
»Tja, da haben deine unbesiegbaren Gardisten wohl doch einen übersehen«, sagte Abu Dun.
Altieri schien ihn nicht zu hören. Er starrte auf das Entsetzliche hinab, das sich wie kochender schwarzer Teer in klarem Wasser in der schreienden Menge unter ihnen ausbreitete. Seine Lippen begannen zu zittern. Er blinzelte nicht, und seine geöffneten Hände schwebten reglos ein Stück über der Balkonbrüstung, als wäre er mitten in der Bewegung und der Zeit erstarrt.
Weitere Schreie wehten aus der Tiefe zu ihnen hoch, und ein zweiter rauchiger Arm schlängelte sich zwischen den Säulengängen hervor und begann gierig nach dem Übermaß an Leben auf dem Platz zu tasten.
Und dem Schmerz, der wie eine berauschende süße Woge aus dem Herzen der tobenden Gewalt zu ihnen emporstieg, unwiderstehlich und auf eine Art verlockend, der Andrej kaum widerstehen konnte.
»Sie … sie müssen uns gefolgt sein!«, rief Altieri. »Die Dämonen! Die Hölle hat ihre Pforten geöffnet, um Satans Horden zu befreien! Das ist der Jüngste Tag!«
»Jedenfalls für dich, wenn wir noch lange hier herumstehen und darauf warten, dass dein Heiland einen Blitz göttlichen Zornes niederfahren lässt«, bestätigte Abu Dun grimmig. »Ich brauche mein Schwert.« Er wies mit dem Kopf auf Andrej. »Und seines.«
»Schwerter werden uns nichts nutzen, fürchte ich.« Andrej merkte erst jetzt, dass Clemens ihnen hinaus auf den Balkon gefolgt war, und auch die anderen drängten sich vor oder in der schmalen Tür, selbst Ayla, auf deren Schulter nun wieder Alis starke Hand lag. Vielleicht ein wenig zu fest, wie Andrej
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