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Nekropole (German Edition)

Nekropole (German Edition)

Titel: Nekropole (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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seine Finger- und Zehenspitzen gekrochen und verwandelte sie in Nester aus rotem Schmerz. Panik stieg in ihm auf. Dann, irgendwann, war vor ihm Licht, aber er war nicht einmal sicher, ob er es sich nicht nur einbildete. Auch Schmerz und Todesangst erstrahlten in den letzten Augenblicken weiß vor den Augen eines Sterbenden.
    Da er spürte, dass ihn das logische Denken verließ, fällte er eine letzte bewusste Entscheidung und überließ es ganz den Instinkten des Kriegers, seine weiteren Handlungen zu bestimmen – was ihm schon unzählige Male das Leben gerettet hatte. Er zog sich selbst auf die Rolle eines unbeteiligten Beobachters zurück. Seine Lungen brannten, als würde er Feuer atmen, sein Herz schmerzte bei jedem Schlag mehr, seine Gedanken verwirrten sich. Irgendwo – vielleicht noch eine Armeslänge entfernt, vielleicht auch hundert Meilen – vor ihm war tatsächlich ein Licht, aber vielleicht war es auch Aylas Gesicht, das ihn vorwurfsvoll ansah, weil er sein Wort gegeben und wieder einmal gebrochen hatte.
    Sein Wille war bedeutungslos geworden, doch seine Arme und Beine arbeiteten mit der stumpfen Beharrlichkeit einer Maschine und katapultierten ihn mit der Strömung auf das rettende Licht zu.
    Sein Herz tat einen letzten, qualvollen Schlag und stellte seinen Dienst dann ganz ein, als es keinen Sauerstoff mehr bekam, und sein Blickfeld begann sich rasend schnell zusammenzuziehen, bis er nur noch einen einzelnen, unerträglich grellen Punkt aus weißem Licht wahrnahm, doch dann stießen seine Hände durch die Wasseroberfläche und gegen rauen Stein. Mit seinem allerletzten Quäntchen Kraft krallte er sich hinein, zog Schultern und Oberkörper aus dem sprudelnden Wasser und warf den Kopf in den Nacken, um seine Lungen mit Luft vollzusaugen.
    Genau einmal, dann straffte sich das Seil um seine Hüfte mit einem Ruck, der ihn brutal unter Wasser und ein gutes Stück in die Richtung zurückriss, aus der er gerade so qualvoll gekommen war. Er wollte vor Zorn und Entsetzen aufschreien und schluckte stattdessen Wasser (nicht nur), dann schlug seine Schläfe mit solcher Gewalt gegen harten Stein, dass rote und weiße Blitze vor seinen Augen tanzten.
    Das Seil zerrte mit unerbittlicher Gewalt an seiner Hüfte, sodass er Arme und Beine ausstreckte, um sich an den Wänden festzuhalten, doch Abu Duns unbändiger Kraft hatte er nichts entgegenzusetzen – zumal sie noch durch die Angst um ihn gemehrt wurde. Andrej stellte jeden Widerstand ein, ließ es zu, noch einmal um mehrere Meter zurückgezerrt zu werden, und konzentrierte sich ganz darauf, den Knoten zu lösen. Der Großteil seiner Atemluft war schon wieder verbraucht, bis es ihm endlich gelang, doch da verhedderte sich sein verletzter Fuß in dem Tauende, sodass er noch ein weiteres Stück zurückgezogen wurde und zur Abwechslung mit dem Hinterkopf gegen Stein knallte.
    Endlich frei, erreichte er das rettende Licht, brach zum zweiten Mal durch die Wasseroberfläche und gönnte sich den unbeschreiblichen Luxus, einen kurzen Moment lang nichts anderes zu tun, als tief ein- und auszuatmen und die Köstlichkeit zu genießen, einfach am Leben zu sein.
    Endlich klärten sich seine Gedanken, und er vermochte zum ersten Mal zu erkennen, wo er eigentlich war, nämlich am Grunde eines vielleicht zwei Meter tiefen Brunnenschachtes, der mit einem eisernen Gitter verschlossen war. Andrej benötigte eine endlose Minute, um den Brunnen in der Art eines Kaminsteigers zu erklettern, indem er sich mit Schulterblättern und Füßen an den Brunnenwänden hinaufstemmte, und noch einmal ein Mehrfaches dieser Zeit, um das Hindernis zu beseitigen.
    Er fand sich in einem unerwartet großen, beinahe leeren Raum wieder. Blassroter Fackelschein fiel durch einen von fast einem Dutzend halbrunder Zugänge herein, die sich an der gegenüberliegenden Wand reihten, und hinter ihm war ein verschwommener Umriss, den er nicht genau identifizieren konnte, der aber etwas Beunruhigendes hatte. Clemens hatte von einer Tempelkammer gesprochen oder einem Altarraum.
    Obwohl Zeit so kostbar war wie nichts anderes, blieb er nach nur wenigen Schritten noch einmal stehen und stützte die Handflächen auf den Knien ab, um Kraft zu schöpfen. Was war mit ihm los? Das Erwachen war stets eine Qual, aber er war nicht gestorben, sondern dem Tod nur so nahe gekommen, dass ihn noch nicht einmal die Dauer eines Gedankens davon trennte, und die paar Schrammen und Kratzer, die er sich auf dem Weg hierher zugezogen

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