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Nekropole (German Edition)

Nekropole (German Edition)

Titel: Nekropole (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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Rücken und genoss den Anblick der zerstörten Krater, wo einmal seine Augen gewesen waren, auch wenn ein Teil von ihm bedauerte, dass er nun nicht mehr sehen konnte, was als Nächstes auf ihn zukam. Aber er genoss seine Furcht, trank seinen Schmerz in tiefen, gierigen Zügen. Der Mann starb, jetzt und in diesem Moment, aber es gab immer noch etwas, das er ihm nehmen konnte. Alles, was er tun musste, war, die Zähne in sein warmes lebendiges Fleisch zu schlagen und …
    Er hatte sich geirrt. Es war nicht Abu Dun gewesen, der versucht hatte, ihn von seinem Opfer wegzureißen.
    Es war der Letzte der drei Männer, die vorhin am Pier gestanden und auf sie gewartet hatten.
    Er war es auch, der Andrej das Messer in den Leib stieß, seitlich und mit großer Kraft und waagerecht gehaltener Klinge, sodass der Stahl fast mühelos zwischen seinen Rippen hindurchglitt und sich in sein Herz grub.
    Es tat nicht einmal sonderlich weh, war eher ein unangenehmes Brennen als ein wirklicher Schmerz, aber schlagartig bekam er keine Luft mehr und spürte, wie sofort jedes Quäntchen Kraft aus seinen Gliedern wich. Alles wurde schwarz und rot, und er versank in einem wirbelnden Strudel aus Nichts …

Kapitel 4
    Es war nicht das erste Mal, dass er träumte und sich dieses Umstandes bewusst war, und dennoch war es dieses Mal anders. Andrej war kein abergläubischer Mensch – wie hätte er das sein können, bei dem, was er war? –, aber er gehörte auch nicht zu denen, die Träume für vollkommen bedeutungslos hielten oder bestenfalls für die Folge von zu viel Wein oder schlechtem Essen. Träume bedeuteten zumeist etwas, und nur, dass er nicht wusste, was, bewies nicht, dass es nicht so war.
    Aber dieser Traum war wirklich ungewöhnlich, blieb doch ein Teil seiner Sinne hellwach und betrat seine innere Welt, in der Logik und Kausalität zwar nicht bedeutungslos waren, aber fundamental anderen Regeln gehorchten.
    Er war wieder auf dem Schiff und zugleich im Händlerviertel von Jaffa, und überall rings um ihn herum tobte ein Kampf auf Leben und Tod – oder, um genauer zu sein, Tod und Tod, denn es waren verwesende und verstümmelte Männer, die miteinander rangen, mit rostigen Schwertern und Dolchen aufeinander einstachen, sich Finger oder Gesichter abbissen und zersplitterte Fingernägel in leere Augenhöhlen gruben, manchmal sogar mit verrotteten Gliedmaßen aufeinander eindroschen, die sie ihrem Gegenüber gerade erst abgerissen hatten. Irgendwo loderte ein gewaltiges Feuer, obwohl er keine Flammen sehen konnte, und der Lärm war unbeschreiblich, wenn auch ganz anders, als er ihn in Erinnerung hatte. Ein gewaltiges Tosen und Brausen lag über der apokalyptischen Szenerie, wie das Heulen eines unsichtbaren Sturmes oder das Jammern Tausender gequälter Seelen, die am Grunde der Hölle an ihren Ketten zerrten.
    Es war ein Bild wie aus einem Albtraum – und schließlich war es ja auch genau das –, und das Bizarrste war vielleicht, dass keiner der Kämpfenden Notiz von ihm zu nehmen schien, obwohl er ununterbrochen angerempelt und gestoßen oder von einer geschwungenen Waffe getroffen wurde. Aber die Menge teilte sich auch nicht vor ihm, um ihn passieren zu lassen wie die Fluten des Roten Meeres weiland Moses, sondern drosch und stach und schlug unverdrossen und mit der stummen Verbissenheit der Toten aufeinander ein. Er kam kaum von der Stelle und musste sich seinen Weg mit Fäusten und Ellbogen bahnen, obwohl er weder wusste wohin noch warum.
    Erst nach einer Weile fiel ihm auf, dass er nasse Fußspuren auf den wankenden Planken des Händlerviertels hinterließ, sah nach unten und gewahrte einen abgerissenen Schädel mit leeren Augenhöhlen und pergamenttrockener Haut, der sich in seinen Fuß verbissen hatte. Angeekelt versuchte er, ihn abzuschütteln, erreichte aber nur, dass sich die fauligen Zähne noch tiefer in sein Fleisch gruben. Es tat weh, obwohl er all die anderen Wunden nicht einmal spürte, die er bei seinem Marsch durch die ringenden Toten davongetragen hatte. Zornig und erschrocken stampfte er mit dem Fuß auf. Das Ergebnis war ein noch schlimmerer Schmerz und ein helles Knacken, mit dem der Unterkiefer des Schädels brach. Die Zähne jedoch gruben sich nur noch tiefer in sein Fleisch, sodass ihm nun die Tränen in die Augen schossen.
    Andrej ließ sich auf das andere Knie sinken und griff mit beiden Händen zu, doch er musste den Schädel mit ganzer Kraft in Stücke brechen, um seinen Fuß zu befreien. Seine Finger

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