Nekropole (German Edition)
nicht und erhob sich. Jetzt kam er zu Andrejs Entsetzen auf den Schrank zu und blieb in kaum zwei Schritten Abstand stehen. Nachdenklich betrachtete er die großen Türen mit den kostbaren Schnitzereien.
Andrejs Hand kroch lautlos zum Gürtel und schmiegte sich um den Dolchgriff, während er sein weiteres Vorgehen erwog. Wenn der Mann in Rot die Hand nach der Tür ausstreckte, dann würde er sie auf- und ihn damit zu Boden stoßen, mit einem einzigen Schritt aus seinem Versteck springen und als Ersten den Mann an der Tür töten, ehe er sich den anderen zuwandte. Er war guten Mutes, schnell genug zu sein, sodass keiner der Soldaten Gelegenheit fand, eine Warnung auszustoßen – aber ganz sicher war er nicht. Sein Fuß pochte, seine Wadenmuskeln waren verkrampft, seine Schultern und der Arm noch immer ein wenig taub, und seine Bewegungen kamen ihm selbst ungelenk vor. Und er hatte nicht vergessen, wie gut die Männer in den gestreiften Uniformen waren.
Außerdem war er nicht hier, um ein weiteres Blutbad anzurichten.
Es hätte ihm nichts ausgemacht. Allein das Rot der Kleidung seines Gegenübers weckte ein düsteres Verlangen in ihm, und er verspürte einen Hunger, der noch lange nicht gestillt war. Aber er war hier, um Ayla zu finden, und sich auf einen überflüssigen Kampf einzulassen, war dabei kaum hilfreich.
Seine Hand schloss sich fester um den Dolchgriff, dann wandte der Mann sich plötzlich ab. Vielleicht war ihm der Gedanke, jemand könnte sich wie in einer Aufführung der Commedia Dell’Arte ausgerechnet in einem Kleiderschrank verstecken, ebenso lächerlich erschienen wie Andrej, als er auf der Flucht vor seinen Verfolgern in den erstbesten Raum gestürzt war und nach einem Versteck Ausschau gehalten hatte. Tatsächlich hatte er einen Augenblick lang mit dem Gedanken gespielt, sich unter dem riesigen Bett zu verstecken, gerade
weil
diese Idee so absurd klang, dass dort gewiss niemand nachsehen würde.
Niemand außer einem Mann im roten Kardinalsornat, der ebenso wenig hier sein sollte wie er selbst.
»Bringt das Mädchen her!«, befahl er jetzt den Gardisten an der Tür. »Wir nehmen es mit. Ich rede später mit ihr.«
»Sie wird nichts sagen, Eminenz«, antwortete der unglückselige Soldat. »Und da ist noch etwas, das …«
»Vielleicht überlässt du diese Entscheidung mir«, unterbrach ihn der Kardinal scharf. »Bring sie her. Und beeil dich!«
Das würde auch Andrej zu schätzen wissen. Der Schmerz in seinem Fuß war verebbt, und die Krämpfe in seinen Waden nur noch lästig, nicht mehr quälend, aber seine Haltung war höchst unbequem.
»Seit Ihr sicher, dass Ihr Euch das zumuten wollt, Eminenz?«, fragte der Soldat unbehaglich. »Es ist kein schöner Anblick.«
Andrej versteifte sich in seinem Versteck.
Kein schöner Anblick?
»Und was bringt dich auf den Gedanken, ich würde etwas von dir und deinen Kameraden verlangen, das ich mir selbst nicht zumute?« Die Worte klangen freundlich, doch die Drohung, die darin lag, war unüberhörbar.
Kein schöner Anblick? Was sollte das heißen?
Nun hatte der Soldat es so eilig, das Zimmer zu verlassen, dass er nicht einmal die Tür hinter sich schloss, als er mit weit ausgreifenden Schritten davonstürmte, sodass Andrej die gedämpften Stimmen der anderen Soldaten hören konnte, die sich auf dieser Etage aufhielten. Es gelang ihm nicht, ihre Anzahl einzuschätzen, doch es mussten viele sein, mindestens ein Dutzend, wenn nicht mehr. Selbst für ihn vielleicht zu viele, zumal es sich um hervorragend ausgebildete Krieger handelte, keine Soldaten, die gegen ihren Willen in diese Uniform gesteckt worden waren und deren Hauptsorge ihr eigenes Wohlergehen war.
Wenn er diese beiden hier möglichst lautlos überwältigte und den Mann in Kardinalsrot als Geisel nahm, dann …
Andrej kämpfte das Unbehagen nieder, mit dem ihn dieser Gedanke erfüllte. Oder war es Enttäuschung? Etwas in ihm
wollte
das Blut dieser Männer vergießen, ihres und das noch vieler mehr. Er brauchte es, um seine eigenen Kräfte zu mehren, die bereits wieder im Schwinden begriffen waren. Das Wenige, das ihm der sterbende Soldat gegeben hatte, reichte längst nicht aus, um seinen Hunger zu stillen. Diese Männer waren ihm ihre Leben schuldig. Er nahm sich schließlich nur zurück, was sie ihm gestohlen hatten, und zudem war es etwas, mit dem sie ohnehin nicht viel anfangen konnten. Soldaten waren nur Sterbliche, deren vorgegebene Zeit kaum lange genug währte, um etwas
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