Nekropole (German Edition)
vor einer massiven Wand. Seine rechte Seite folgte der Krümmung des gewaltigen Rundbaus, auf der anderen zweigten drei offen stehende Türen ab, hinter denen weitere, prachtvoll eingerichtete Räume lagen, in denen es weder Fenster noch einen zweiten Ausgang gab. Andrej musste nicht nachsehen, um das zu wissen. Die Männer hinter ihm hatten es nicht eilig, ihn zu verfolgen, weil sie wussten, dass es nichts gab, wohin er fliehen konnte.
Andrej beschleunigte seine Schritte trotzdem weiter, rannte durch die letzte Tür auf der linken Seite und fand sich in einem fensterlosen Raum mit niedriger Decke und vielen wuchtigen Möbeln wieder. Eine einzelne, aber hell brennende Kerze schwängerte die Luft mit süßlichem Weihrauchgeruch. Beiläufig registrierte er, dass das große Bett benutzt aussah. Hastig setzte er Ayla ab, warf die Tür hinter sich zu und stellte erst dann fest, dass sie kein Schloss hatte, sondern nur eine hölzerne Klinke und einen kleinen Riegel, den selbst ein Zehnjähriger ohne große Anstrengung eintreten konnte. Trotzdem legte er ihn vor, blickte sich suchend um und schob einen der kostbaren Stühle unter die Klinke, was ihre Verfolger für mindestens eine weitere Sekunde aufhalten musste, wenn nicht gar zwei.
Erst dann drehte er sich wieder zu Ayla um und ließ sich, die Hand auf ihrer Schulter, vor ihr in die Hocke sinken, um ihr in die Augen zu blicken, genau wie es der Kardinal gerade getan hatte. Der Blick, mit dem sie ihn maß, kam ihm nicht wirklich freundlicher vor. Wahrscheinlich war das arme Mädchen noch immer halb wahnsinnig vor Angst.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte er. »Haben sie dir etwas getan?«
Ayla presste fest den Schleier vors Gesicht und machte mit der anderen Hand eine Bewegung, als wollte sie seinen Arm abstreifen. »Niemand hat mir etwas getan. Einer hat es versucht, aber ich habe mich gewehrt.«
»Ich weiß.« Andrej suchte nach aufmunternden Worten und fand keine. Hinter ihm erzitterte die Tür unter einem wuchtigen Schlag, dem das helle Splittern folgte, mit dem die Stuhllehne barst. Der nächste Schlag würde die Tür mitsamt dem Schloss aus dem Rahmen sprengen. Ihm blieb noch weniger Zeit, als er gefürchtet hatte.
»Such dir ein Versteck«, sagte er. »Ich versuche, sie aufzuhalten, aber ich weiß nicht, wie lange es mir gelingt.«
Tatsächlich war er recht zuversichtlich, es auch mit diesem ganzen Dutzend Männer aufnehmen zu können, wenn es sein musste, aber er wollte nicht, dass Ayla es mit ansah.
»Du da drinnen!« Die ängstliche Stimme des Soldaten drang nur gedämpft durch das dicke Holz der Tür. »Verstehst du mich? Sprichst du unsere Sprache?«
Andrej ergriff das Schwert mit beiden Händen, wich ein paar Schritte von der Tür zurück und nahm mit leicht gegrätschten Beinen und halb zur Seite gedrehtem Oberkörper so weit entfernt Aufstellung, um nicht von einem Trümmerstück getroffen zu werden, sollte sich jemand mit Gewalt Zutritt verschaffen. Erst dann antwortete er mit einem einfachen: »Ja.«
»Dann komm ohne deine Waffe raus und ergib dich uns, und du hast mein Wort, dass du am Leben bleibst.«
Natürlich. Ein Versprechen, dem man einfach glauben musste. »Woher weiß ich, dass ich dir trauen kann?«
»Wir haben kein Interesse an dir. Wenn du dich wehrst, töten wir dich. Wahrscheinlich bringst du vorher noch ein paar von uns um. Ich habe gesehen, wozu du imstande bist. Aber am Ende wärst du trotzdem tot. Sag uns, wer dich geschickt hat und warum, und du bleibst am Leben.«
Von
unversehrt
und
frei
hatte er nichts gesagt, dachte Andrej.
Oder im Besitz aller Gliedmaßen
. Er schwieg. Ayla hatte das Tuch wieder ganz vor ihrem Gesicht befestigt und überzeugte sich sorgfältig davon, dass es auch richtig saß, dann deutete sie mit dem Kopf auf einen schweren Samtvorhang auf der anderen Seite der Kammer. »Dahinter ist eine Tür.«
»Das ist die letzte Warnung. Ich zähle jetzt bis zehn. Wenn du bis dahin nicht herauskommst, holen wir dich!«
Andrej begann langsam im Stillen zu zählen und wandte sich dann im Flüsterton an Ayla. »Eine Tür? Wohin führt sie?«
Ayla hob nur die Schultern, und Andrej, der mittlerweile bei fünf angekommen war, fragte noch einmal laut: »Woher weiß ich, dass ich dir vertrauen kann?«, wobei er sich bemühte, eine Spur von Unsicherheit in seine Stimme zu legen.
Ayla ging zu dem Vorhang und zog ihn mit einem Ruck beiseite. Tatsächlich kam dahinter eine schmale und mit schweren eisernen Bändern
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