Nekropole (German Edition)
vornehmeren Viertel der Stadt gewesen. Andrej hätte erwartet, auch nach all der Zeit noch etwas von diesem Glanz zu spüren. Immerhin befanden sie sich an einem Ort, den nicht wenige (zumindest auf dieser Seite des Mittelmeeres) für die Wiege der Zivilisation hielten und der einmal das Herz des größten und mächtigsten Imperiums der Welt gewesen war. Doch je tiefer sie in das Labyrinth aus verwinkelten Gässchen und düsteren Hinterhöfen vordrangen, in das Kasim sie führte, desto deutlicher wurde es, wie lange diese goldenen Zeiten zurücklagen.
Was früher prachtvoll gepflasterte Straßen und aufwendig verzierte Patrizierhäuser gewesen waren, war längst verlassen und dem Verfall und dem Vergessen anheimgegeben. Vielleicht hatten diese Straßen einmal vom Lachen der Kinder widergehallt, dem Feilschen der Händler und den fröhlichen Stimmen der Frauen, und wo jetzt der Putz unter dem Echo ihrer Schritte rieselte, da war vor einer kleinen Unendlichkeit das Rollen der Wagenräder erklungen, das Klappern der Pferdehufe und das Bellen der Hunde, die sich um die Küchenabfälle balgten, von denen es in dieser wohlhabenden Stadt reichlich gegeben hatte.
Wenn es heute hier noch Menschen gab, dann würden sie sich wahrscheinlich darum balgen, wer die Hunde einfangen und braten durfte.
Der Gedanke erfüllte Andrej mit einem vagen Gefühl von Enttäuschung. Er war nie ein großer Freund des Christentums gewesen – nicht der Art von Christentum, das in diesem Teil der Welt praktiziert wurde –, und wenn auch nur die Hälfte von dem stimmte, was er über das römische Imperium gehört hatte, dann hatte es viel zu lange existiert und war vollkommen zu Recht untergegangen, doch das alles hatte nichts mit dieser Stadt zu tun und den Menschen, die sie erbaut und in ihr gelebt hatten. Es mochten die Namen der Herrscher und Tyrannen sein, an die sich die Menschen erinnerten, doch in Wahrheit waren es die Hände ehrlicher Menschen gewesen, die diese Mauern mit ihrem Blut und ihrem Schweiß errichtet hatten. Sie jetzt in Verfall und Vergessenheit versinken zu sehen, kam ihm wie eine nachträgliche Verhöhnung all derer vor, die diese prachtvolle Stadt wirklich gebaut hatten.
»Es ist jetzt nicht mehr weit.« Das sagte Kasim, der wieder stehengeblieben war, nun schon zum zehnten Mal innerhalb ebenso vieler Minuten. Abu Dun runzelte die Stirn und setzte zu einer Antwort an, ließ es dann aber doch bleiben, wofür ihm Andrej im Stillen dankbar war. Er war nicht sicher, ob Kasim in immer kürzeren Abständen anhielt, um angeblich Aylas Spur zu suchen, weil er die Orientierung verloren hatte oder weil ihm das Gehen immer mehr Mühe bereitete. Er würde nicht mehr lange durchhalten. Was immer Hasan mit ihm gemacht hatte, verzehrte ihn wie ein kaltes inneres Feuer, als koste ihn jede Minute ein Jahr seiner Lebenszeit.
»Wenn du uns sagen würdest, wonach du suchst, dann könnten wir dir vielleicht helfen«, sagte Abu Dun, nicht nur überraschend sanft, sondern es war auch ganz offensichtlich nicht das, was er eigentlich hatte sagen wollen. Selbst Ali sah ihn fast verdutzt an.
Kasim schüttelte jedoch nur den Kopf und wies nach vorne. »Irgendwo … dort.«
»Irgendwo.« Abu Dun machte keinen Hehl daraus, wie wenig ihm die Antwort gefiel, und auch Hasan sah nun besorgt aus.
»Dort.« Kasim wiederholte seine deutende Handbewegung – nicht ganz in dieselbe Richtung, was weder Andrej noch Hasan entging, und schlurfte mit hängenden Schultern und schleppenden Schritten weiter.
Andrej hatte noch keine zwei Schritte getan, als er etwas spürte. Ein unangenehmes Gefühl, das ihm auf schreckliche Weise
bekannt
erschien, doch er kam nicht dazu, es genauer zu ergründen, denn plötzlich erscholl vor ihnen ein schrilles Kläffen, und aus einer schmalen Seitenstraße schoss ein Hund – und das so ungestüm, dass er auf der schmalen Straße weder abbremsen noch schnell genug seine Richtung ändern konnte und so wuchtig mit der Flanke gegen die Mauer auf der gegenüberliegenden Seite stieß, dass er wie vom Blitz getroffen umfiel.
Der Anblick hätte vielleicht sogar etwas Komisches gehabt, wäre dem ersten Hund nicht augenblicklich ein zweiter gefolgt, dann ein dritter und vierter und schließlich ein ganzes Rudel bellender und winselnder Straßenköter, die allesamt nur eines gemeinsam hatten: Sie waren in Panik.
Blind vor Furcht um sich beißend und nach allem schnappend, was ihren Weg kreuzte, quoll die struppige Flut aus der Gasse
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