Nele Paul - Roman
ja nur eine Stunde von hier entfernt.« Ich kniepte ihr zu. »Wenn Rokko fährt.«
Sie legte ihre warme Handfläche auf meine Wange und sah mir aus nächster Nähe in die Augen.
»Mal ehrlich. Wenn ich nach Sibirien wollte, würdest du auch mitkommen, oder?«
»Was …? Sibirien …?? Du hast recht.«
Sie lachte. Ich küsste sie. Sie legte ihre andere Hand auf meine andere Wange. Meine Finger tasteten sich unter ihr Shirt, als November wie Godzilla durchs Korn geschossen kam und sich auf unsere Beine warf.
»He!«
Ich wollte ihn wegschieben und handelte mir einen begeisterten Gesichtsschleck inklusive Hundeatem ein. Als sich die Aufregung gelegt hatte, war die Magie weg, aber ich machte mir keinen Kopf. Wir hatten Zeit. Sogar genug, um Augenblicke loszulassen. Es würde neue geben, und diese Gewissheit war das Schönste, was ich mir wünschen könnte. Über uns der Himmel, um uns herum Korn, in meinem Arm Nele. Vor uns eine gemeinsame Zukunft. In dem Moment hätte mich der Weltfrieden kaum glücklicher machen können.
Es war nichts zu hören außer einem Motor in weiter Ferne. Wir redeten kaum, bis das Gespräch gänzlich einschlief. Nele atmete immer ruhiger. Ich hielt ihre Hand und sah dem Himmel beim Verfärben zu. Neleland. Mit ihr, bei ihr. Von Zeit zu Zeit warfen wir uns einen Blick zu, manchmal ein Lächeln. Früher hatten solche Phasen sich manchmalüber Wochen gezogen. Wochen, in denen wir einfach existiert hatten. Zusammen auf der Oberfläche treiben, ohne die Sache unnötig zu beschleunigen. Diese Erfahrung hatte mich später so manche Beziehung gekostet. Wenn man es gewohnt war, mit jemandem schweigen zu können, war Plappern das Ende jeder Hoffnung.
Wir blieben im Kornfeld liegen. Das Licht veränderte sich. Es wurde Abend. Ich hatte eine Hand auf Novembers warmem Fell und die andere auf Neles Bauch. Die Welt war woanders. Hier bei uns waren nur eine Frau, ein Mann und ein Hund. Die lagen beieinander und ließen die Zeit vergehen. Ob man das in Amsterdam konnte? Sich einfach im richtigen Augenblick hinlegen und liegen bleiben, bis es gut war?
Etwas kitzelte an meiner Nase. Ich öffnete meine Augen. Neles Gesicht hing vor meinem in der Luft. Hinter ihr war der Himmel orange.
»Wach auf«, lächelte sie. »Höchste Zeit, ins Bett zu gehen.« Ich richtete meinen Oberkörper auf und erschlug eine Mücke an meinem Hals. Ich hatte Kopfschmerzen und einen üblen Geschmack im Mund.
Nele stand auf und streckte mir ihre Hände entgegen.
»Komm, wir brauchen eine Dusche.«
Sie zog mich auf die Beine. Die Welt war wieder da. Unten im Haus brannte Licht. Wir verließen das Kornfeld und gingen Hand in Hand den Hügel hinunter.
Als wir das Haus erreichten, sah sie mich an.
»Also, machen wir es?«
»Unbedingt.«
Sie stupste mich.
»Mor überreden.«
»Yep.«
Ich duschte zuerst, und als sie ins Bad verschwand und meinte, es könnte ein bisschen dauern, ging ich schon malnach unten. Ich holte mir ein Bier aus dem Kühlschrank und spülte mit dem ersten Schluck eine Kopfschmerztablette runter. Das Haus war ruhig. Dabei war jetzt eigentlich Fernsehzeit. Ich steckte den Kopf ins Wohnzimmer, der Raum war leer und der Fernseher aus. Ich fand Mor schließlich im Garten, wo sie im Licht einer Kerze las.
»Du verdirbst dir die Augen«, sagte ich und knipste die Außenbeleuchtung an.
Sie hob den Kopf.
»Mach es wieder aus, sonst kommen die Viecher.«
»Die fliegen nicht nach Licht, sondern nach Geruch.«
»Nur die, die nicht schon vom Licht angelockt wurden.«
Ich knipste das Licht wieder aus und musterte den leeren Tisch.
»Ein Glas Wein?«
»Gerade nicht, danke.«
»Soll ich dir den Sauger holen?«
»Nein, danke.«
Ich musterte sie. Dann setzte ich mich.
»Was machst du hier draußen?«
Sie klappte das Buch zu und legte es beiseite.
»Ein paar Gewohnheiten ändern.«
»Ach so.«
Sie überraschte mich mit einem wehmütigen Lächeln.
»Du machst das gut, Schatz.«
»Was denn?«
»Lieben.« Das Licht der Kerze ließ ihre Augen schimmern. »Aus meinem kleinen Jungen ist ein Mann geworden, und wenn ich dich so sehe, denke ich, schade, dass ich nicht noch mehr Kinder bekommen habe. Ich bin so stolz, dass ich dich großgezogen habe.«
Ich nahm ihre Hand und wusste nicht, was ich sagen sollte. »Ich weiß«, sagte sie und drückte meine Hand. »Wenn Nele geht, musst du mitgehen. Ich will nicht, dass du sie noch einmal gehen lässt.«
Ich sah sie an. Diese Frau, die immer gewusst hatte, was mit
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