Nele Paul - Roman
mir war, noch bevor ich es selbst wusste. Die Frau, die mich mein Leben lang beschützt hatte, auch als sie selbst Schutz gebraucht hätte.
»Habt ihr schon darüber gesprochen?«
Ich nickte.
»Und?«, fragte sie.
»Amsterdam.«
»Schöne Stadt. Und gar nicht so weit weg.«
»Deswegen«, sagte ich.
Sie lächelte und sah in die Ferne. Irgendwo bellte ein Hund. Ein paar Insekten tanzten um die Kerze. Ein leichter Wind strich durch den Garten und ließ die Blätter der Bäume und Gräser rascheln. Mors Hand lag warm in meiner. Bei dem Gedanken, sie hier alleine zu lassen, zog sich mein Magen zusammen.
Aus der Küche drangen Geräusche.
»Jemand was zu trinken?«, rief Nele aus der Küche.
»Bier!«
»Für mich Eistee«, sagte Mor.
Ich warf ihr einen Blick zu. Sie schaute unschuldig zurück. Draußen lesen, kein Fernseher, kein Wein. Und bald kein Sohn mehr. Vielleicht übte sie schon mal loszulassen.
Nele kam in Hemd und Jeans in den Garten. Sie stellte die Getränke auf den Tisch, setzte sich, warf einen Blick auf unsere Hände, die noch immer ineinander lagen.
»Was wird das? Ein Sit-in?«
Mor sah sie streng an.
»Was auch immer das sein mag, solche Dinge machen wir hier bestimmt nicht.«
Nele lachte und nahm ihre andere Hand.
»Wir haben eine Überraschung für dich.«
»Schwanger kannst du so schnell ja nicht geworden sein.« Nele lächelte süß und schlug die Augen nieder.
»Wir gehen nach Amsterdam.«
Mor lächelte.
»Ah, schön, soll ja eine tolle Stadt sein.« Mor hob ihr Glas. »Auf Amsterdam.«
»Und darauf, dass du mitkommst«, sagte Nele.
Mor schüttelte den Kopf.
»Das ist lieb, aber nein, das geht nicht.«
Nele ließ ihr Glas sinken.
»Wieso denn nicht? Amsterdam ist schön und ganz nah am Meer. Wir könnten uns ein kleines Haus mieten und zusammen dort leben.«
»Als Behinderte in der Großstadt? Nein, danke.«
Nele sah mich an.
»Die Städte haben hohe Auflagen, was Behindertenfreundlichkeit angeht«, sagte ich pflichtbewusst.
»So etwas kann nur ein Nichtbehinderter behaupten.« Sie streckte die Arme aus. »Das hier ist mein Zuhause. Hier bin ich frei. Hier kenne ich jeden. Keine Stadt kann mir das bieten, was ich hier habe.« Sie lächelte. »Vor allem jetzt, wo ich die Rakete habe. Himmel, wo sollte ich das Ding denn in der Stadt ausfahren?«
»Illegale Rollstuhlrennen, nachts, vermummt«, schlug ich vor.
Nele warf mir einen Blick zu. Okay, keine Witze. Sie sah wieder Mor an.
»Aber wir würden zusammen wohnen. Das wäre doch schön.«
Mor lächelte nachsichtig.
»Ach, Engelchen, das ist gut gemeint, aber in der Stadt wäre ich nur ein weiterer Krüppel. Ich bleibe hier. Das hier ist mein Zuhause.«
Ihr Blick fiel auf meine Bierflasche. Ich nahm einen Schluck und ließ meine Hand mit der Flasche unter den Tisch sinken. Lächerlich. Ich stellte die Flasche auf den Tisch zurück.
»Mach dir keine Sorgen um mich, ich komme schon klar.Ich habe gelernt, ohne Bein zu leben, da schaffe ich es auch ohne Sohn.« Sie hob ihr Glas. »Himmel, wie ich mich für euch freue … Auf die Liebe! Skål!«
Wir prosteten uns zu. Dann lehnte ich mich zurück, gab vor, die Sterne zu beobachten, und hörte zu, wie die beiden sich unterhielten. Ich hatte früher oft gedacht, dass ich jede Frau für Nele verlassen würde, aber so hatte ich mir das nicht vorgestellt.
Ein seltsames Geräusch drang aus der Küche. Es klang wie … der Gesang von Eunuchen?? Nach ein paar Sekunden erkannte ich Modern Talking … You´re my heart, you’re my soul . Mor und Nele verstummten und sahen mich an. Rokko, der Arsch. Neulich hatte er mir Hitlers Wollt ihr den totalen Krieg draufgeladen und mich beim Zahnarzt angerufen. Ich hatte Mühe gehabt, es Doktor Goldstein zu erklären.
Der Refrain begann von vorne. Ich eilte in die Küche, wo mein Handy über den Küchentisch hüpfte. Auf dem Display leuchtete die Handynummer der Neuen.
»Hallo. Ich hab was, und da es eilig klang, dachte ich, ich rufe sofort an.«
»Das ging aber schnell.«
»Ich habe einen Kontakt bei der Kripo Köln, auf den Sie sich berufen können. Er hat die Eigentümer des Escort-Services auf dem Kieker. In den letzten Jahren gab es mehrere Anzeigen wegen Nötigung, Erpressung und Körperverletzung, aber keine einzige Verurteilung.«
»Offenbar waren die immer unschuldig.«
»Klar«, sagte sie sarkastisch. »Außerdem ist eine der Damen mit zehn Gramm Koks erwischt worden. Zuerst sagte sie aus, dass ihr Chef ihr das Koks für die
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