Nelson, das Weihnachtskaetzchen
möchtest, komme ich demnächst mit Gehhilfe hierher. Und lege mir eine karierte Decke über die Knie.«
»Das würdest du tun?« Murat lachte. »Es wäre perfekt.«
Nachdem er gegangen war, widmete sich Arthur dem Kreuzworträtsel in seiner Zeitung. Er pflegte sich damit die Zeit zu vertreiben, wenn er alle Artikel gelesen hatte. Doch heute blieb er nicht lange allein. Liselotte trat lächelnd an seinen Stand und schob sich die grauen Locken aus dem Gesicht. Sie reichte ihm den aktuellen »Spiegel« über die Verkaufsfläche.
»Damit du was zu lesen hast«, sagte sie. »Deine Zeitung hast du ja immer so schnell durch. Ich dachte, es kann nicht schaden, wenn ich dir den ›Spiegel‹ mitbringe. Ich habe ihn schon durch.«
Was diese Frau alles bemerkt, dachte er. Es war unglaublich.
»Das ist wirklich eine gute Idee. Danke, Liselotte. Sehr nett von dir.«
»Und wie laufen die Geschäfte?«
»Gut. Sehr gut sogar. Langsam frage ich mich, ob ich überhaupt genügend Figuren bis Weihnachten habe.«
»Das ist doch großartig.«
Sie steckte ihre Hand in die Manteltasche und zog einen Fleischstick hervor. Offenbar trug sie eine Tüte mit Katzensnacks bei sich. Sie beugte sich über die Figuren und reichte Nelson das Leckerli, der sich sofort mit Begeisterung darüber hermachte.
»Da wirst du aber ganz schön verwöhnt, mein Kleiner«, stellte Arthur zufrieden fest.
»So einen hübschen Kater muss man einfach verwöhnen«, meinte Liselotte. »Nicht wahr, Nelson?«
Nachdem sie gegangen war, legte sich Nelson auf sein Kissen am Öfchen und döste. Arthur griff nach dem »Spiegel« und las ein wenig darin. Irgendwann sah er auf und lauschte in sich hinein. Er fühlte sich gut. Er war zufrieden.
Da war etwas, das er schon sehr lange nicht mehr gefühlt hatte: Gemeinschaft. Diese Menschen, die ihn hier umgaben, mochten ihn. Und er mochte sie. Er hatte ganz vergessen, wie wohltuend so ein Gefühl sein konnte.
Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie einsam er in den letzten Jahren gewesen war. Er hatte sich immer eingeredet, es wäre eine selbst gewählte Einsamkeit gewesen. Er wollte seine Ruhe haben und sich auf seine Schnitzarbeiten konzentrieren. Andere Menschen brachten da nur alles durcheinander.
Aber das stimmte nicht. Nach dem Tod von Sophie wollte er sich zurückziehen, weil er so furchtbar traurig gewesen war. Deshalb hatte er hohe und undurchdringliche Mauern um sich errichtet. Er wollte keine Menschen mehr in sein Leben lassen.
Wäre Nelson nicht gewesen, wäre es wohl dabei geblieben. Dann hätte er diese Erfahrungen nicht gemacht.
»Nicht wahr, mein Kleiner?«, sagte Arthur und lächelte. »Du weißt schon, weshalb du unbedingt in meinem Stand Unterschlupf finden wolltest.«
Ohne den Kopf vom Kissen zu heben, öffnete Nelson das linke Auge und betrachtete ihn. Was weißt du denn schon über mich?, schien sein Blick zu sagen. Aber Arthur ließ sich davon nicht beeindrucken.
»Du bist eben ein Weihnachtsengel«, sagte er. »Das hätte ich gleich merken müssen. Ein richtiger kleiner Weihnachtsengel.«
Nelson sah noch eine Weile aus dem geöffneten linken Auge zu ihm herauf, dann wandte er den Kopf ab und rollte sich auf dem Kissen zusammen.
Die positiven Gefühle der Gemeinschaft waren aber nicht alles. Da war etwas anderes in Gang gesetzt worden. Seine Schutzmauern hatten Risse bekommen, und er spürte auf einmal Gefühle wie Trauer und Verlust. Seine Familie war auseinandergebrochen, und er war dafür verantwortlich. Er hatte seine Tochter davongejagt. Nach dem Tod seiner Frau Sophie war alles kaputtgegangen.
Arthur begriff: Er musste sein Leben in Ordnung bringen. Sonst würde er immer unglücklich bleiben. Er musste sich mit Anna versöhnen. Es war das einzig Richtige, was er tun konnte.
Nachdenklich betrachtete er seinen dösenden Kater.
»Vielleicht wirst du bald noch jemanden kennenlernen, Nelson«, sagte er. »Meine Tochter.«
Nelson hob nun den Kopf und sah ihn träge an.
»Bestimmt wirst du sie mögen. Sie ist nämlich ein wunderbarer Mensch.«
Die Antwort war ein leises Miauen, dann drehte sich Nelson auf die andere Seite und döste weiter.
Am nächsten Morgen war Arthur nur kurz in seinem Verkaufsstand. Er ließ Nelson aus dem Körbchen, stellte das Öfchen wärmer und baute den Stand auf. Dann ging er hinaus in die Gasse und wartete.
Eine junge Frau würde heute kommen und für ihn arbeiten. Die Jobvermittlung für Studenten hatte sie geschickt. Eigentlich konnte sich Arthur so etwas
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