Nelson, das Weihnachtskaetzchen
Schultern.
»Na klar«, sagte sie. »Wenn du das gerne möchtest.«
»Geil, Mama. Echt, danke.«
Gut gelaunt schaufelte er sich den Teller voll und verschwand. Kurz darauf drang das vertraute Computer-Gedudel aus seinem Zimmer.
Anna machte sich daran, die Pfanne mit der Hand zu spülen. Sie wollte heute nicht über Erziehungsfragen nachdenken. Sie hatte andere Dinge im Kopf, zum Beispiel die Suche nach Nelson. Sie hatte Klaus nichts von ihrem nächtlichen Ausflug zum Alexanderplatz erzählt, denn als sie nach Hause gekommen war, hatte er bereits tief und fest geschlafen. Natürlich hatte sie Nelson nicht gefunden, auch wenn sie das insgeheim gehofft hatte. Aber vielleicht würde sie ja in den kommenden Nächten mehr Glück haben. Sie wollte auf jeden Fall dorthin zurückkehren. Es war trotz allem eine vielversprechende Spur.
Das Areal rund um den Platz war geprägt von breiten Straßen und großen Plattenbauten. Es gab Kaufhäuser, Unterführungen, Kinos und Parkhäuser. Der Bahnhof mit den Fernzügen, der S-Bahn und mehreren U-Bahnlinien war riesig und unübersichtlich. Doch irgendwo dort konnte Nelson sich tagsüber versteckt halten. Dann wäre er vielleicht noch am Leben.
Nach einigem Zögern war Anna schließlich zum Weihnachtsmarkt gegangen. Sie hatte vor den verschlossenen Eingängen gestanden und durch die Gitterstäbe hindurchgelugt. Ein kleines Dorf lag da hinter dem Zaun, in der Mitte erhellt von einem großen leuchtenden Weihnachtsbaum. Anna hatte an ihren Vater gedacht. An seinen Stand mit den wunderschönen Krippenfiguren. So viel war ihr durch den Kopf gegangen. Erst als ein Sicherheitsmann auf sie aufmerksam geworden war, hatte sie sich wieder auf den Heimweg gemacht.
Der nächtliche Ausflug hatte zwar Nelson nicht nach Hause gebracht, doch dafür hatte Anna viel über ihren Vater nachgedacht. Noch immer spürte sie die Verletzung, aber hatte sie selbst damals nicht auch schlimme Dinge gesagt und ihren Vater mindestens ebenso verletzt?
Seitdem war viel Zeit vergangen. Kurz nach ihrem Zerwürfnis hatten die Probleme mit ihren eigenen Kindern begonnen. Vielleicht lag der Schlüssel ja darin, den Streit mit ihrem Vater beizulegen? Er saß wie ein giftiger Stachel in ihrem Herzen. Kein Wunder, dass sie so verbittert geworden war und ständig an allem herumnörgelte. Sie musste mit ihrer Vergangenheit Frieden schließen – erst dann würde sie auch in der gegenwärtigen Situation die nötige Gelassenheit im Umgang mit ihren Kindern finden.
Sie nahm sich vor, später zum Weihnachtsmarkt zu fahren. Sie wusste ja, wo sie ihren Vater finden konnte.
Gerade hatte sie die nasse Pfanne aufs Abtropfblech gestellt, da tauchte draußen vorm Fenster ein Auto auf. Es war ein Wartungswagen der bvg. Anna sah verwundert hinaus. Sie hatte so einen Wagen schon ewig nicht mehr gesehen. Ihr Vater, der kein eigenes Auto besaß, obwohl er sein Leben lang Busfahrer gewesen war, hatte sich immer von ehemaligen Arbeitkollegen im Fuhrpark der bvg leihweise die Schlüssel geben lassen, wenn er ein Auto brauchte, zum Beispiel, um seine Schnitzereien zum Weihnachtsmarkt zu transportieren. War er das etwa da draußen?
Sie trocknete sich die Hände am Geschirrtuch ab und fixierte den Wagen. Tatsächlich blieb er vor ihrer Haustür stehen. Es war also wirklich ihr Vater. Sie spürte ihr Herz klopfen. Darauf war sie nicht vorbereitet. Was sollte sie denn jetzt sagen? Doch jetzt war keine Zeit mehr zum Nachdenken. Sie musste sich der Begegnung stellen. Sie wollte nicht ausweichen und nichts vorschieben. Eigentlich war es ganz einfach: Sie wollte ihrem Vater vergeben. Und sie wollte, dass er ihr vergab.
Sie holte tief Luft und ging zur Tür. Ihr Vater stieg aus dem Wagen und sah auf. Ihre Blicke trafen sich. Er lächelte unsicher. Dann standen sie sich gegenüber. Anna spürte einen Impuls. Am liebsten hätte sie ihn einfach umarmt, doch so weit waren sie noch nicht. Stattdessen schob sie die Hände in die Taschen ihrer Jeans.
»Hallo, Papa.«
»Hallo, Anna.« Er räusperte sich. »Komme ich ungelegen? Soll ich lieber später wiederkommen? Oder vielleicht ein andermal?«
»Nein, nein. Es ist schön, dass du da bist. Ich … es passt mir.«
Jetzt lächelte er. »Das ist gut.«
»Arbeitest du heute gar nicht auf dem Weihnachtsmarkt?«
»Eine Studentin vertritt mich heute. Bianca. Sie ist ein liebes Mädchen. Mein Stand ist in guten Händen.«
»Das freut mich.«
Unschlüssig blieben sie voreinander stehen. Schneeflocken
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