Nelson, das Weihnachtskaetzchen
dass sie es bemerkt hatte.
23
Nelson wusste nicht, wie ihm geschah. Plötzlich war er wieder bei Marie. Da waren das vertraute Zimmer, der Flur und die Treppe, die Küche, in der Maries Mutter das Abendessen machte, und die Katzenklappe in der Terrassentür. Dahinter lagen die Gärten, in denen er nachts immer unterwegs gewesen war. Nichts hatte sich verändert.
Marie umarmte ihn, bis ihm die Luft wegblieb. Da hatte sie ihn erst wochenlang im Stich gelassen, und jetzt das. Nelson fauchte und kratzte, bis sie ihn losließ. Er sprang auf den Boden und wandte den Blick ab. Nein, das hatte ihm alles viel zu lange gedauert.
»Aua! Er hat mich gekratzt, Mama.«
»Das kann schon sein. Lass ihn doch erst mal in Ruhe ankommen. Für ihn ist das auch alles ein bisschen viel.«
Marie betrachtete ihn. Dann robbte sie vorsichtig näher.
»Nelson, soll ich dich ein bisschen in Ruhe lassen?«, fragte sie und streichelte sein Fell.
Nelson wand sich unter ihrer Hand hinweg und machte zwei Schritte von ihr fort. Dann leckte er sich an der Stelle, wo sie ihn gestreichelt hatte, das Fell sauber. Er war immer noch beleidigt. Auf einmal tat Marie, als gäbe es nur ihn. Aber wo war sie denn gewesen, als er in diesem Lüftungsschacht gehockt hatte, frierend und völlig ausgehungert? Er fand, sie tauchte reichlich spät auf.
»Er muss sich erst wieder eingewöhnen«, sagte Maries Mutter. »Gib ihm ein bisschen Zeit.«
Nelson sprang auf seinen alten Platz auf der Heizung. Dort lag noch immer sein Deckchen. Er schnüffelte daran, doch es roch nur nach ihm. Hier war keine andere Katze gewesen. Auch die Stoffmaus roch nach ihm. Wenigstens etwas.
Immer wenn Marie wegblickte, sah er heimlich zu ihr hinüber. Er hatte sie vermisst. Elegant sprang er von der Heizung und setzte sich neben sie auf den Boden. Dabei achtete er jedoch darauf, ihr den Rücken zuzukehren.
»Ach, Nelson«, sagte Marie. »Ich bin so froh, jetzt gehst du nie wieder weg.« Zu ihrer Mutter sagte sie: »Darf ich Nelson füttern?«
Plötzlich dachte Nelson an den alten Mann. Was war eigentlich mit ihm? War der jetzt weg? Würde er wiederkommen? Würde Nelson später noch zum Weihnachtsmarkt gebracht werden? Er verstand das alles nicht. Sein neuer Freund war wie vom Erdboden verschluckt.
Marie tauchte mit seinem Fressnapf auf. Das brachte ihn sofort auf andere Gedanken. Er miaute. Wie das duftete. Es war nicht das Fressen, das Arthur ihm immer gegeben hatte, aber es war auch sehr lecker. Vor allem war es vertraut. Es war sein Fressen. Er verstand: Hier gehörte er hin. Er beugte sich über den Napf und fraß. Als Marie ihn dabei wieder vorsichtig zu streicheln begann, ließ er es geschehen.
24
Am frühen Abend, nachdem sich die größte Aufregung gelegt hatte, ging Anna zu den Grünbergs herüber, um zu sehen, wie Nelson sich wieder eingelebt hatte. Dorothee begrüßte sie freudig an der Hautür.
»Anna, wie schön, dass du vorbeikommst. Ich wollte auch schon zu dir rüber. Wir hatten ja noch gar nicht die Gelegenheit, in Ruhe miteinander zu sprechen.«
»Ja, das stimmt. Es war ein ganz schönes Durcheinander heute Nachmittag.«
»Komm rein, wir trinken einen Tee zusammen. Du musst mir unbedingt erzählen, wie du Nelson wiedergefunden hast.«
Anna folgte ihr in die Küche, wo sie sich an den großen Esstisch setzten. Dorothee goss ihr ein Glas Gewürztee ein.
»Also, jetzt sag schon. Wie hast du ihn gefunden?«
»Das ist eine lange Geschichte«, sagte Anna ausweichend. Sie wollte Dorothee nicht von ihrem Vater erzählen. »Im Grunde hatte ich gar nicht viel damit zu tun. Ich schätze mal, die Plakate, die wir aufgehängt haben, hatten schließlich Erfolg.«
»Du schätzt? Aber wer war dieser Mann von der bvg, der hier war? Der hat doch Nelson hergebracht, oder?«
»Das war ein alter Bekannter. Eigentlich war alles nur ein großer Zufall.«
»Ein ziemlich toller Zufall war das, Anna.«
Die Küchentür öffnete sich, und Marie tauchte auf. Sie trug bereits ihren Schlafanzug und wirkte erschöpft.
»Mama, Nelson schläft jetzt …«
Da entdeckte sie den Besuch am Küchentisch und war sofort wieder hellwach.
»Anna!«, rief sie und fiel ihr in die Arme. »Danke!« Es war ein gutes Gefühl. Anna war froh, das Mädchen nun doch nicht enttäuschen zu müssen. Es hatte auf Messers Schneide gestanden, doch nun hatte Marie den Glauben an die Welt der Erwachsenen vorerst nicht verloren.
Nachdem Anna den überschwänglichen Dank entgegengenommen hatte und Marie
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