Nelson, das Weihnachtskaetzchen
Moment.«
Anna bedankte sich. Ihr Vater würde gleich eintreffen. Sie schlenderte also ein bisschen herum, doch sie hatte nicht die Ruhe, sich die vielen bunten Waren in den anderen Ständen näher anzusehen. Als sie nach einer Weile zur Hütte ihres Vaters zurückkehrte, war die immer noch verschlossen.
Der junge Mann vom Nachbarstand wirkte nun etwas nervös. Er ging auf Anna zu und sah ratlos zu dem verriegelten Stand herüber.
»Ich wünschte, ich könnte Ihnen sagen, wann er kommt«, meinte er. »Normalerweise ist er immer pünktlich.«
»Ich bin seine Tochter, wissen Sie? Anna Brandt.«
»Seine Tochter? Ich wusste gar nicht … Na, egal. Vielleicht können Sie Ihren Vater anrufen oder so? Er bekommt nämlich Ärger mit der Marktleitung, wenn er seinen Stand nicht rechtzeitig öffnet. Wir haben uns alle vertraglich verpflichtet, während der Öffnungszeiten die Stände zu betreiben.«
»Ja, ich rede mit ihm. Danke für den Hinweis.«
»Aber beeilen Sie sich. Vielleicht hat er ja einfach verschlafen oder so.«
»Was passiert denn, wenn er nicht kommt?«, fragte Anna.
»Wenn sein Stand länger geschlossen bleibt, muss er Strafgelder zahlen. Und er riskiert, im nächsten Jahr keinen Platz mehr zu bekommen. Das wäre wirklich schlecht. Ihr Vater bessert sich mit dem Geld die Rente auf, aber das wissen Sie sicher. Er braucht diesen Stand. Ich mach mir wirklich Sorgen.«
Sie bedankte sich nochmals und ging zurück zum Parkhaus. Dort zog sie ihr Handy hervor und versuchte wieder, ihren Vater anzurufen. Doch vergebens. Er ging nicht an den Apparat.
Kurz entschlossen setzte sie sich in den Wagen und fuhr nach Schöneberg. Sie fand einen Parkplatz direkt gegenüber dem grauen Mietshaus, in dem sie aufgewachsen war. Erinnerungen überrollten sie. Als Kind hatte sie gar nicht gesehen, wie schäbig hier alles war. Für sie war es einfach der Ort gewesen, an dem sie glücklich war. Es war fast so etwas wie ein Paradies gewesen. Heute hingegen wirkte alles viel kleiner und gedrungener. Und vor allem wirkte es ärmlich.
Hinter den Fenstern der Wohnung war nichts zu erkennen. Schwere Gardinen verdeckten die Sicht. Sie klingelte an der Haustür, doch nichts passierte. Hatten sie und ihr Vater sich vielleicht verpasst? War er in der U-Bahn gewesen und saß nun längst in seinem Stand?
Die Tür öffnete sich, und eine Nachbarin trat auf die Straße. Es war die alte Frau Kaluschke, die eine Treppe tiefer wohnte. Ein unverbesserlicher alter Drachen, vor dem Anna schon als Kind Angst gehabt hatte. Die Nachbarin war inzwischen zu einer griesgrämigen Greisin geworden.
Sie sah zu ihr auf, und Anna hielt die Luft an, doch Frau Kaluschke erkannte sie nicht wieder. Sie humpelte schlecht gelaunt an ihr vorbei und verschwand. Anna atmete auf. Sie schnappte nach der Tür, kurz bevor sie ins Schloss fiel, dann war sie im Haus.
Oben vor der Wohnungstür ihres Vaters lauschte sie. Also doch: Da waren Geräusche. Er musste zu Hause sein.
Sie klingelte an der Wohnungstür, und prompt verstummten die Geräusche. Er wollte sich offenbar tot stellen.
»Papa!« Sie klopfte laut gegen die Tür. »Papa, jetzt mach schon auf!«
Sie hörte, wie er in den Wohnungsflur schlurfte. Doch die Tür blieb geschlossen.
»Was willst du?«, kam es schließlich von der anderen Seite.
»Ich will wissen, was los ist! Bist du krank? Ist etwas passiert? Die Marktleute machen sich Sorgen um dich, weil du nicht in deinem Stand aufgetaucht bist.«
»Es ist alles in Ordnung«, rief er.
Anna war es zu blöd, sich durch die verschlossene Tür hindurch anzuschreien. »Jetzt mach doch bitte auf!«
»Es ist alles in Ordnung«, wiederholte er. »Ich will nur meine Ruhe haben.«
»Aber dein Stand …«
»ICH WILL MEINE RUHE HABEN!«
Das brachte Anna zum Schweigen.
»Ist das denn so schwer zu verstehen?«, blaffte er.
Anna spürte einen Stich. Das hörte sich gar nicht mehr nach Versöhnung an.
»Aber … was ist mit uns?«, fragte sie.
Stille auf der anderen Seite.
»Ich hatte gehofft …«, begann sie, doch dann verschlug es ihr die Sprache. Sie schluckte.
»Nicht heute, Anna«, kam es von drinnen. Seine Stimme klang erschöpft. »Bitte …«
Anna starrte die Tür an. Eine Weile passierte gar nichts, dann hörte sie, wie ihr Vater davonschlurfte, ins Wohnzimmer zurückkehrte und die Tür hinter sich schloss. Anna ließ er allein im Hausflur zurück.
25
Arthur ließ sich in seinen Sessel sinken. Er war furchtbar müde. In der vergangenen Nacht
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