Nelson, das Weihnachtskaetzchen
haben. Was bildete dieser Junge sich ein?
»Sie hat da bestimmt was falsch verstanden«, fuhr Murat fort. »Rede einfach noch mal mit ihr.«
»Das ist ja wohl die Höhe! Willst du mir etwa Ratschläge erteilen? Ich bin über siebzig Jahre alt, da muss ich mir nicht von einem dahergelaufenen Jungen sagen lassen, was ich zu tun und zu lassen habe.«
»So habe ich das doch nicht gemeint. Ich …«
»Dann ist ja gut. Und wenn ich jetzt bitte endlich meine Zeitung lesen dürfte!«
Murat wollte noch etwas sagen, doch Arthurs Blick ließ ihn verstummen. Der sonst so freche und respektlose Junge wirkte plötzlich niedergeschlagen. Ohne ein weiteres Wort wandte er sich ab und kehrte zu seinen Wollsocken zurück.
Arthur verkroch sich noch tiefer in den Bauch seiner Hütte. Die Leute sollten ihn in Ruhe lassen. Es kam nichts Gutes dabei heraus, das hatte er von Anfang an gewusst.
Er sah hinaus zur Eislaufbahn, wo die Rentnerin weiterhin ihre Bahnen zog. Die Arme hinter dem Rücken verschränkt, hielt sie das Gesicht unbeirrt in den eisigen Wind. Arthur sah ihr noch eine Weile zu, wie sie in gleichmäßigem Rhythmus über das Eis glitt, dann nahm er seine Zeitung und begann darin zu lesen.
28
Anna betrachtete resigniert den Adventskranz. Es war Montagnachmittag, und die Kerze vom gestrigen vierten Advent war noch immer nicht angezündet worden. Keiner außer ihr hatte das bislang bemerkt, nicht einmal Klaus. Sie war offenbar die Einzige hier, der diese Dinge noch etwas bedeuteten. Traurig nahm sie ein Streichholz und zündete nun alle vier Kerzen an. Dann war eben heute der vierte Advent. Sie konnte es einfach nicht ertragen, die vierte Kerze unberührt zu sehen.
Sie ging hinüber zum Wohnzimmerschrank und zog erneut die Zigarrenkiste mit den alten Fotos hervor. Jahrelang hatte die Kiste dort unberührt im Schrank gelegen, und jetzt kam sie innerhalb weniger Tage schon zum zweiten Mal ans Licht. Anna setzte sich neben den Adventskranz und sah sich noch einmal die Bilder an.
Die Weihnachtsfotos zogen auf besondere Weise ihre Aufmerksamkeit auf sich. Weihnachten in der kleinen Zweizimmerwohnung in Schöneberg. Mit ihrem Erwachsenenblick sah Anna, wie einfach und beinahe ärmlich sie damals gefeiert hatten. Doch als Kind hatte sie keine Augen dafür gehabt. Weihnachten war für sie der Himmel gewesen. Etwas Schöneres und Reicheres hatte sie sich nicht vorstellen können, und alles schien im Überfluss da zu sein.
Jetzt, wo sie selbst Kinder hatte, wusste sie: Es waren ihre Eltern gewesen, die damals dieses Gefühl bei ihr geweckt hatten. Dafür brauchte es nämlich gar kein Geld und keine teuren Geschenke. Es brauchte einfach nur Liebe.
Was mache ich denn falsch?, fragte sie sich. Ich liebe meine Kinder doch auch.
Sie kramte weiter in der Kiste herum und stieß auf ein Foto, das sie und ihren Vater zeigte. Anna hockte auf seinem Schoß, den Kopf hielt sie aufrecht und stolz, und den Arm hatte sie um seinen Hals geschlungen. Ihr Vater umarmte sie und sah sie voller Zuneigung an. Ihre Mutter hatte dieses Foto gemacht. Es hatte einen besonderen Moment festgehalten. Näher konnten sich ein Vater und eine Tochter kaum stehen.
Das Bild verschwamm vor ihren Augen. Anna konnte die Tränen nicht zurückhalten. Leise schluchzte sie vor sich hin.
Plötzlich nahm sie eine Gestalt im Türrahmen wahr.
»Mama?«
Es war Laura. Anna hatte sie gar nicht kommen hören.
Blitzschnell schob sie die Fotos zusammen und stopfte sie zurück in die Kiste. Dann wischte sie sich eilig die Tränen weg, stand auf und ging in die Küche.
»Ist die Probe in der Theaterwerkstatt schon zu Ende?«, fragte sie betont fröhlich. »Das ging aber schnell.«
Sie tat, als müsste sie etwas im Küchenschrank nachsehen. Hauptsache, sie konnte ihr verweintes Gesicht vor Laura verbergen.
»Ihr hattet doch Generalprobe heute, nicht wahr?«, plauderte sie weiter. »Da dachte ich, es würde länger dauern.«
Doch Laura ging nicht drauf ein. »Ist etwas passiert?«, fragte sie.
»Nein, nichts. Alles in Ordnung.«
Doch Laura ging bereits zum Wohnzimmertisch, öffnete die Kiste und sah hinein. »Da sind ja Fotos von Opa drin«, stellte sie fest.
Das ging jetzt zu weit. Laura konnte sich doch nicht einfach so einmischen. Anna lief nach nebenan und nahm ihr die Kiste aus der Hand.
»Hör mal zu, das sind meine Bilder.«
»Aber …«
»Nein, Laura. Das geht dich nichts an.«
Ihre Tochter verschränkte genervt die Arme. »Nein, natürlich nicht. Was hab
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