Nelson, das Weihnachtskaetzchen
Belastung für sie gewesen und habe sie im Stich gelassen. Solche schrecklichen Dinge habe ich zu ihm gesagt.«
Jetzt war es raus. Sie betrachtete ihre Tochter, die erschrocken dasaß. Hatte sie ihr zu viel zugemutet?
Laura dachte nach. Schließlich streichelte sie Anna etwas unbeholfen über den Arm.
»Du hast es nicht so gemeint, Mama.«
»Nein, das stimmt. Aber Opa hat es auch nicht so gemeint. Wir waren beide so furchtbar traurig. Wir hätten uns gegenseitig trösten sollen, wie es sich in einer Familie gehört. Stattdessen haben wir uns Vorwürfe gemacht.«
»Was hat Opa dann gesagt?«, fragte Laura.
»Er sagte: Du bist nicht mehr meine Tochter.«
Laura sah überrascht auf. Damit hatte sie nicht gerechnet. »Er hat dich weggeschickt? Er wollte nicht mehr mit dir verwandt sein?«
Anna nickte. »Deswegen kommt Opa nicht mehr an Weihnachten hierher, verstehst du, Laura? Er ist nicht im Heim. Es ist nur so, dass ich nicht mehr seine Tochter bin. Es tut mir so leid, dass ich euch gesagt habe, er wäre wieder nach München gezogen. Aber ihr wart noch so klein damals. Was hätte ich denn sagen sollen?«
Laura wusste nicht, was sie hätte erwidern können.
»Siehst du? So dumm können Erwachsene sein.« Anna lächelte traurig. »So schwach. Und so voller Fehler.«
»Aber hast du Opa denn noch lieb?«, fragte Laura.
»Ja, das habe ich.«
»Und er? Hat er dich auch immer noch lieb?«
»Ich weiß nicht. Aber ich glaube schon.«
»Warum vertragt ihr euch dann nicht wieder?«
Anna lächelte. Wie sehr junge Leute die Dinge doch auf den Punkt bringen konnten.
»Das ist sehr kompliziert. Soll ich es dir erklären?«
Laura nickte, doch sie wirkte erschöpft. Anna ging es nicht anders.
»Gleich«, sagte sie. »Aber zuerst essen wir etwas, und dann machen wir einen Spaziergang, und dabei reden wir weiter, wenn du das immer noch möchtest. Was hältst du davon?«
Laura dachte kurz nach, dann nickte sie wieder.
Anna stand auf. Sie fühlte sich etwas leichter. Sie wusste nicht, ob es richtig gewesen war, ihrer Tochter all diese Dinge zu erzählen. War Laura denn überhaupt schon altgenug dafür? Doch sie selbst fühlte sich freier.
Laura stand ebenfalls auf und lächelte ihrer Mutter zu.
»Ich hab ziemlichen Hunger. Wegen der Probe.«
»Wegen der Probe? Verrätst du mir, welche Rolle du eigentlich spielst? Ich kenne das Stück ›Was ihr wollt‹ sehr gut.«
»Die Viola«, sagte Laura und grinste stolz.
Die Überraschung war ihr gelungen. »Eine Hauptrolle? Das ist ja großartig!«
Anna wäre beinahe die Frage herausgerutscht, wann denn nun genau die Aufführung sei und ob sie und Klaus nicht doch kommen sollten, doch jetzt war nicht der rechte Moment dafür. So weit waren sie noch nicht. Stattdessen holte sie tief Luft.
»Also gut«, sagte sie. »Was sollen wir uns kochen? Worauf hast du Lust?«
29
Die letzten Tage auf dem Weihnachtsmarkt brachen an, und der Betrieb lief auf Hochtouren. Das winterliche Wetter tat das Seine dazu, denn die Romantik auf dem Markt lockte zusätzliche Besucher an.
Arthur fühlte sich an diesem Tag wie erschlagen. Die vielen langen Arbeitstage steckten ihm in den Knochen. Am Alexanderplatz stieg er aus der U-Bahn und kämpfte sich durch die Menschenmassen hinaus auf den Platz. Ein Akkordeonspieler saß neben der Fassadensäule eines Kaufhauses und spielte ein getragenes russisches Volkslied. Arthur war ergriffen von der traurigen Melodie, blieb stehen und lauschte. Doch in dem Gewusel der vielen Menschen, die ihre Weihnachtseinkäufe erledigten, war er der einzige, der dem Mann Aufmerksamkeit schenkte. Er holte ein Eurostück hervor, warf es dem Akkordeonspieler in den Hut und machte sich auf den Weg zum Weihnachtsmarkt.
Unterm Fernsehturm war alles tief verschneit. Für die Fußgänger waren Wege freigeschaufelt worden, und jenseits dieser Wege waren die Spuren von Schneeballschlachten. Vor einem Souvenirshop stand ein Schneemann, der einen mexikanischen Poncho trug, eine Nikolausmütze und eine riesige Sonnenbrille. Arthur betrachtete ihn lächelnd und ging weiter.
Da blieb sein Blick an einem Baumstamm hängen, an dem noch immer das vertraute Suchplakat hing: »Nelson wird vermisst! Wer hat unseren Kater gesehen?« Arthur blieb stehen. Ein Klebestreifen hatte sich gelöst, und die Ecke des Plakats flatterte im Wind. Außerdem hatten ein paar Spaßvögel Nelson eine Augenklappe und einen Bart gemalt. Trotzdem war es unverkennbar. Das war Nelson, kein anderer Kater sah so
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