Nelson DeMille
schweigend auf der Aussichtsplattform mit Blick auf die ausgeschachteten Ruinen. Es war schwer, die Tragödie zu begreifen, und noch schwerer, den sinnlosen Tod so vieler Menschen zu verstehen, darunter auch Leute, die wir gekannt hatten. Der graue, nieselige Tag trug ein Übriges zu unserer düsteren Stimmung bei.
Wir machten einen Spaziergang durch die Straßen von Lower Manhattan. Als ich hier gearbeitet hatte, war dies ein sehr geschäftiger und hektischer Teil der Stadt gewesen, aber jetzt wirkten die Straßen und Gehsteige menschenleer, und ich wusste, dass es etwas mit dem 11. September zu tun hatte. Vielleicht würde ich wieder hier arbeiten, aber natürlich in einer anderen Kanzlei - einer, die meine kecken beruflichen Entscheidungen, meine Segelabenteuer und meine frühere Verbindung zum organisierten Verbrechen zu schätzen wusste. Es würde nicht so leicht werden, einen Job zu finden - von Anthonys großzügigem Angebot einmal abgesehen -, und da ich möglicherweise der Einzige war, der mich zu dem verlangten Gehalt einstellen würde, sollte ich vielleicht für mich selbst arbeiten. Mein künftiger Schwiegervater würde mir meine neue Kanzlei bestimmt liebend gern finanzieren, und Carolyn könnte bei mir einsteigen, dann wären wir Sutter & Sutter: Steuerrecht, Umweltexperten und Frauenrechtler.
»Worüber denkst du nach?«, fragte Susan.
Ich sagte es ihr, und sie lächelte: »Welches dieser Fachgebiete würde dir am besten gefallen?«
Wir gingen die Chambers Street entlang und betraten das Ecco-Restaurant, in das ich früher regelmäßig Mandanten mitgenommen hatte. Nachdem man uns Plätze zugewiesen hatte, betrachtete ich die anderen Mittagsgäste, größtenteils Wall-Street-Typen, die für mich leicht auszumachen waren, auch wenn ich kein bekanntes Gesicht sah. Zur Klientel bei Eccos gehörten auch teure Strafverteidiger, die in den nahen Gerichten tätig waren, dazu ein paar ranghohe Ordnungshüter von den ebenfalls in der Nähe gelegenen Police Plaza und Federal Plaza. Ich hielt Ausschau nach Mr Mancuso, nahm aber nicht an, dass er sechzig Dollar für ein Mittagessen verplemperte, auch wenn wir hier vielleicht eines Abends nach der Arbeit unsere Biere trinken würden.
»Siehst du jemanden, den du kennst?«, fragte Susan. »Nein. Und es ist erst zehn Jahre her.«
»Zehn Jahre können eine lange Zeit sein.«
»In der Tat.«
Wir gönnten uns ein gutes Mittagessen, dazu eine Flasche Rotwein, um die Kälte aus den Knochen zu kriegen, hielten Händchen und redeten.
Nach dem Mittagessen unternahmen wir einen Spaziergang zu meinem alten Kanzleigebäude an der Wall Street Nummer 23, und wie üblich wies ich Susan auf die Schrammen im Stein hin, die durch eine Anarchistenbombe um die Wende zum letzten Jahrhundert verursacht worden waren. Sie war so nett, mich nicht daran zu erinnern, dass ich ihr das schon zwanzig Mal gezeigt hatte.
Ich wollte die große, prachtvolle Lobby betreten und mich umsehen, bemerkte aber, dass nahe der Tür eine Sicherheitsschleuse samt Metalldetektoren und Tischen war, wo man seine Taschen leeren musste. Das war ein bisschen unangenehm und auch deprimierend, deshalb zogen wir weiter - nicht dass ich mit dem Aufzug zu Perkins, Perkins, Sutter und Reynolds hochfahren wollte, um meine ehemaligen Partner zu umarmen und zu küssen.
Ich war bereit, das Reich der Erinnerungen zu verlassen und mit der U-Bahn oder einem Taxi hoch nach Midtown zu fahren und auf große Einkaufstour zu gehen, aber Susan sagte zu mir: »Lass uns nach Little Italy gehen.«
Ich schwieg.
»Wir müssen da ebenfalls hin«, beharrte sie.
Ich dachte darüber nach, schließlich stimmte ich zu. »Na schön.«
Also liefen wir im Nieselregen nach Little Italy und landeten in der Mott Street, die sich in den letzten zehn Jahren nicht groß verändert hatte, ebenso wenig wie in den letzten hundert Jahren.
Eine Minute später standen wir vor Giulio's Ristorante. Hier hatte sich in den letzten hundert Jahren ebenfalls nicht viel verändert, auch wenn ich wusste, dass man die Schaufensterscheibe und die roten Cafevorhänge vor zehn Jahren ausgetauscht hatte - kurz nachdem Frank Bellarosa eine doppelte Schrotladung auf seine Kevlarweste abbekam, rückwärts über den Gehsteig flog und durchs Fenster im Giulio's landete.
Ich betrachtete den Gehsteig, auf den Vinnie gestürzt war, nachdem ihn eine einfache Schrotladung aus knapp zwei Metern Entfernung mitten im Gesicht getroffen hatte. Die Schützen, zwei Mann,
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