Nelson sucht das Glück
dann nur der Pfleger war, stieß er ein kurzes, müdes Bellen aus. Vielleicht würde Lucy ja wissen, wo er war, wenn er bellte. Doch um noch einmal zu bellen, fehlte ihm die Energie. Er hatte immer noch nicht bemerkt, dass er nur noch drei Beine hatte, und war überrascht, als sich in der Box eine warme Pfütze seines eigenen Urins ausbreitete. Der Pfleger wischte sie rasch auf.
Als Nelson am nächsten Morgen aufwachte, wimmerte er vor Schmerzen. Wo früher sein linker Hinterlauf gewesen war, quälte ihn ein dumpfes, aber heftiges Pochen. Die Tagespflegerin, eine junge Frau namens Suzi, kam zu ihm herüber und gab ihm ein Schmerzmittel. Nelson hatte Hunger und schlang gierig das Futter hinunter, das sie ihm gab, und trank alles Wasser, das im Napf war.
Nelson mochte sowohl Juan als auch Suzi sehr gerne. Dougal gab sich große Mühe, wirkliche Tierliebhaber für die Arbeit in der Klinik zu finden, und er war stolz darauf, seinen tierischen Patienten ein hohes Maß an Pflege zukommen lassen zu können. An dem Tag nach seiner Operation dachte Nelson dennoch die ganze Zeit voller Sehnsucht an Lucy. Immer wieder schaute er zu den anderen Boxen hinüber, als rechnete er damit, dass sie in einer davon auf ihn wartete. Doch als er Witterung aufnahm, wusste er, dass sie nirgendwo in der Nähe war. Während der letzten paar Jahre war sein Leben so sehr mit dem ihren verbunden gewesen, dass ihr Fehlen ihm zunächst viel mehr auffiel als die Tatsache, dass er nur noch drei Beine hatte.
Während der Schock von dem Unfall und die Wirkung der Betäubungsmittel allmählich nachließen und für Nelson der Heilungsprozess begann, spürte er irgendwann, dass etwas anders war. Als er zum ersten Mal aufstand und versuchte, sich zu schütteln, wie er es immer tat, brach er hilflos zusammen. Das war ein vollkommen fremdes Gefühl, plötzlich nur noch auf drei Beinen zu stehen. Juan beobachtete den kleinen Hund dabei, wie er versuchte, sich aufzurichten. Er holte ihn aus der Box und setzte sich hin, um eine Weile mit ihm zu spielen. Dabei versuchte er, ihn zu stützen, damit der Hund es schaffte, aufzustehen.
Nelson fiel immer wieder um. Wenn Juan ihn hielt, schaute er fragend zu ihm empor und hob die Rute, wedelte schwach damit. Juan lächelte. Doch dann fiel Nelson wieder um.
Den Verlust von Katey, von Thatcher und von Lucy konnte Nelson nie vergessen. Ihre Duftnoten hingen für immer in seiner Erinnerung, wehten ihm in unerwarteten Momenten entgegen, manchmal durch andere Gerüche und Gefühle hervorgerufen. Wenn er sich diese Menschen und seine geliebte Lucy vorstellte, empfand er Traurigkeit darüber, dass ihr Duft nirgendwo mehr zu finden war. Doch dann riss das Leben ihn wieder aus seinen duftdurchtränkten Tagträumen, und er vergaß den Verlust eine Weile. Im Laufe der Jahre wurden die Gerüche immer ungenauer, sie verloren an Schärfe, wurden dumpf, und nach einer gewissen Zeit blieb, mehr als der Duft selbst, nur noch seine Idee davon übrig, und das war es, woran Nelson sich erinnerte.
Der Verlust seines Beines war eine ganz andere Sache. Er beschränkte ihn so sehr in seinem Handlungsspielraum, dass in dem ersten Monat, den er in der Tierklinik von Dougal Evans verbrachte, das Fehlen des Beines jeden einzelnen Moment seines täglichen Lebens beanspruchte. Zuerst verwirrten die Ereignisse der vergangenen paar Tage den Hund so sehr, dass das Leben ihm irgendwie gar nicht real vorkam. Doch als dann die Betäubungsmittel reduziert wurden und der Tierarzt auch die anderen Medikamente langsam absetzte, verhärtete sich der dumpfe, pochende Schmerz an der Stelle, wo früher sein Bein gewesen war, in ein viel intensiveres Gefühl, das ihn von nun an immer begleiten würde: Er war sich seines fehlenden Beines stets bewusst, zu jeder Stunde und Minute des Tages.
Nelson hatte viele Jahre lang für sich selbst gesorgt, und davor, in seiner Zeit bei Katey, war er immer ein aktiver Hund gewesen, der nie damit aufhörte, sich mit seiner Umgebung zu beschäftigen. Dass er auf einmal nicht mehr laufen, sich nicht mehr frei bewegen konnte, war ein Angriff auf seine grundlegende Existenz als Hund. Zunächst verfiel er darüber in eine tiefe Depression. Er wurde sanftmütig, unterwürfig, lag die meiste Zeit herum, aß und trank wenig, nur genug, um sich am Leben zu halten. Es war der Gedanke an Lucy, der ihn ablenkte und ihn davor bewahrte, endgültig schwermütig zu werden. Juan merkte, wie Nelson aufblickte, wenn sich irgendwo in der
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