Nelson sucht das Glück
heimlich den Mariachi-Spielern zuzuhören, die in einem exklusiven Club auftraten. Für sie war das ein Gefühl, als spielten sie an einem ganz besonderen Ort in einem anderen Universum, einer Welt endlosen Glücks. Als ihre Familie dann nach Amerika übersiedelt war, hatte die enorme Vielfalt der amerikanischen Popmusik sie ungeheuer fasziniert, einer Musik, die in vielerlei Hinsicht ihr Leben bestimmte. Wenn sie den Sendungen ihrer Oldies-Station lauschte, wusste sie oft genug noch ganz genau, wo sie einen bestimmten Song zum allerersten Mal gehört hatte. Sie erinnerte sich an die guten und an die schwierigen Zeiten in ihrem Leben zurück, an die vielen Veränderungen, die in ihrem Land vorgegangen waren. Schon in jungen Jahren hatte sie bemerkt, dass sich in den meisten Liedern alles um die Liebe drehte. Es war das Wort, das in den Texten am häufigsten vorkam, und sie dachte oft, Liebe sei wohl auch das Thema, über das die Menschen am liebsten sangen.
Es kam tatsächlich nicht oft vor, dass im Radio ein Song gespielt wurde, in dem es nicht explizit um Liebe ging. Die Beatles hatte Norma immer besonders gemocht. Ihre Lieder waren humorvoll und gefühlvoll zugleich und die Texte oft ungewöhnlich und intelligent. Und so freute sich Norma, als eines schönen, sonnigen Nachmittags in Kalifornien einer ihrer liebsten Beatles-Songs im Radio kam: » Here Comes the Sun«.
Doch Norma hatte nicht lange Freude an dem Lied, denn die Reaktion des dreibeinigen Hundes riss sie aus ihrer allmorgendlichen Radiorunde. Unerklärlicherweise sprang er von ihrem Schoß und begann langsam, aber zielgerichtet im Kreis zu laufen, als hätte er nie ein Problem mit den Gelenken gehabt. Es sah aus wie eine Art Tanz. Und dann fing er an zu heulen. Es war ein lautes und durchdringendes Heulen, ein erschütterndes Geräusch. In Normas Ohren klang es so, als habe der Hund große Schmerzen. Sie rief ihn, doch er reagierte nicht, sondern sprang weiter umher und heulte dabei sogar noch lauter. Als sie das Radio ausschaltete, hörte er abrupt damit auf. Einen Moment lang stand er nur da, als würde er aus einer Trance erwachen. Dann kam er langsam auf sie zu und leckte ihr die Füße.
An diesem Abend erzählte Norma Jake von Nelsons ungewöhnlichem Verhalten. Während Jake beunruhigt war, meinte Oliver nur, Nelson habe der Song offenbar gut gefallen. Nach dem Abendessen folgte Jake einer Eingebung, stieg auf den Dachboden und durchsuchte seine Sammlung mit alten Vinylschallplatten, die er als Teenager wie einen Schatz gehütet hatte. Dazu gehörten auch viele Beatles-Platten, darunter Abbey Road, die LP, auf der das Lied » Here Comes the Sun« war. Jake besaß immer noch seinen alten Plattenspieler und hatte schon seit einer Weile vorgehabt, Oliver etwas über die besonderen Qualitäten der Analogtechnik zu erzählen. Er trug den Plattenspieler nach unten, zusammen mit der LP.
Nelson schlenderte im Haus umher, wie immer neugierig auf alles, was die Familie gerade machte. Jake nahm den Plattenspieler in Betrieb. Er funktionierte noch, obwohl er sieben oder acht Jahre auf dem Dachboden gewesen war. Er wischte die LP sorgfältig ab und legte sie auf den Plattenteller. » Here Comes the Sun« war das erste Lied auf der zweiten Seite. Die ersten bekannten Akkorde auf der Ukulele erklangen. Alles blickte wie gebannt auf Nelson. Einen Moment lang schaute er zu ihnen hoch, als wollte er sich vergewissern, dass er ihre Aufmerksamkeit hatte. Doch dann klopfte Jake den Takt mit dem Fuß und klatschte mit. Oliver fiel mit ein. Und es geschah genau das Gleiche wie am Morgen: Auf einmal waren wieder die Erinnerungen an Katey da, die Nelson das Lied vorgesungen hatte, und er erkannte in seinem einfachen musikalischen Verständnis den Rhythmus und die Harmonien des Songs. Und genau wie am Morgen stieg in Nelson das tiefe und überwältigende Bedürfnis hoch, wieder bei Katey zu sein. Für ihn gab es keine andere Art, dies auszudrücken, als zu heulen. Er musste sie einfach wissen lassen, wo er war, damit sie ihn vielleicht finden konnte. Er musste ihr mitteilen, dass er sie nicht vergessen hatte, musste ihr zeigen, wo sein Revier war, so wie es die Wölfe auch getan hatten, damit Katey wusste, wo sie bei Nelson Wärme und Sicherheit finden konnte.
Wie Norma war Jake wie gebannt von dem traurigen und klagenden Geheul, das der Hund ausstieß, doch er machte sich auch Sorgen, dass Nelson mit seinem seltsamen Tänzchen seinen Gelenken zu viel zumuten könnte.
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