Nemesis 01 - Die Zeit vor Mitternacht
Moderig. Als wäre irgendetwas verdorben und längst weggebracht worden, hätte aber einen ganz leisen Verwesungsgeruch in den Möbeln und Wänden hinterlassen, der nicht wirklich zu orten, aber auch nicht wirklich zu ignorieren war. Meine Hand, die noch immer das Buch hielt, zitterte, und trotz der Kälte konnte ich die Stelle zwischen den Schulterblättern spüren, an denen mein Hemd schweißnass auf der Haut klebte. Was zum Teufel war mit mir los?
Viel hastiger, als ich es beabsichtigt hatte, stellte ich das Buch wieder an seinen Platz zurück, richtete mich auf und fuhr mir nervös mit dem Handrücken über den Mund. Der moderige Geschmack verstärkte sich, und vielleicht lag das ganze Geheimnis allein in diesem fünfzig oder auch hundert Jahre alten Buch und hatte weniger mit alten Flüchen und den Geistern verwunschener Spukschlösser zu tun als vielmehr mit uraltem Papier, das tatsächlich zu vermodern begonnen hatte. Hatte ich nicht einmal etwas über gewisse Schimmelpilze gehört, deren Sporen nicht nur hochgiftig waren, sondern auch Halluzinationen auslösen konnten?
Ein billiger Trick, um mich selbst zu beruhigen; und noch dazu einer, der nicht wirklich funktionierte. Meine eigene Drogenkarriere ähnelte jener der meisten anderen meiner Generation: Der eine oder andere Joint während meiner Schulzeit, einige vorsichtige Experimente mit Dope und ein einziger (allerdings heftiger) Schneesturm, dann hatte die Vernunft (und — gottlob! — die Angst) gesiegt und ich hatte die Finger von dem Zeug gelassen. Aber man wächst nicht im Europa oder auch Amerika des ausklingenden zwanzigsten Jahrhunderts auf, ohne eine Menge über dieses Zeug zu erfahren, und ich wusste einfach, dass es keine Drogen gibt, die so schnell und auf diese Art wirken. Und schon gar keine, die ihre Wirkung ebenso schnell wieder verlieren. Was immer ich gerade erlebt hatte, es lag nicht an irgendwelchen high machenden Fluch-des-Pharao-Sporen in diesem Buch. Es lag an mir.
»Natürlich liegt es an dir«, murmelte ich. »Was hast du denn erwartet, nach so einem Tag?«
»Was liegt an mir?«
Diesmal hatte ich mich nicht mehr gut genug in der Gewalt, um nicht mit einem erschrockenen Keuchen herumzufahren. Mein Herz jagte nicht mehr, es hüpfte mit einem Satz in meine Kehle hinauf und versuchte über meine Zunge zu entkommen.
In der Tür stand Judith. Zumindest im allerersten Moment sah sie kein bisschen weniger erschrocken aus als ich, dann machte sich ein halb verlegener, halb aber auch schuldbewusster Ausdruck auf ihrem Gesicht breit.
»Entschuldige«, sagte sie. »Ich wollte dich nicht erschrecken.«
»Hast du nicht«, log ich. Dann zuckte ich mit den Schultern und fügte hinzu: »Wenigstens nicht sehr.« Innerlich atmete ich erleichtert auf — unendlich erleichtert, um der Wahrheit die Ehre zu geben. Ich hätte in diesem Moment nicht sagen können, was ich erwartet hatte, aber es war ganz und gar nicht so, dass ich nichts erwartet hätte.
Nicht Judith oder einen der anderen, nichts wirklich Konkretes. Aber in dem unendlich kurzen Moment, den ich gebraucht hatte, um auf die Stimme zu reagieren und mich herumzudrehen, hatte ich einfach gewusst, dass hinter mir irgendetwas Grässliches lauerte; etwas, von dem ich keinerlei Vorstellung hatte, aber das irgendwie mit dem moderigen Geruch und den unheimlichen Halluzinationen zu tun hatte und dessen bloßer Anblick mich vernichten musste.
»Das hast du wirklich nicht«, sagte ich noch einmal, wie um der Behauptung durch bloße Wiederholung mehr Gewicht zu verleihen. Ich konnte selbst hören, wie wenig überzeugend die Worte klangen. Die wenigsten Lügen gewinnen an Glaubwürdigkeit, wenn man sie wiederholt.
»Na, dann ist es ja gut«, antwortete Judith. Sie wirkte verlegener als zuvor, verloren, als wüsste sie nichts mit sich anzufangen; ungefähr wie jemand, der ohne anzuklopfen in ein Zimmer platzt und seine beiden Brüder dabei überrascht, wie sie Evil Ernie und Bert spielen. Sie versuchte zu lächeln, aber irgendwie war dieses Lächeln wie meine Behauptung gerade: Es betonte die Wahrheit mehr, als sie zu widerlegen.
»Komm ruhig rein«, sagte ich. »Du störst wirklich nicht.
Ich kann sowieso noch nicht schlafen.«
»Kein Wunder — in diesem Spukschloss.« Judith gab sich einen sichtbaren Ruck und war von einem Sekundenbruchteil auf den anderen wieder Judith, mit allen Wenn und Aber. Sie waren mir egal. Auch wenn ich es niemals offen zugegeben hätte: In diesem Moment wäre ich
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