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Nemesis 01 - Die Zeit vor Mitternacht

Nemesis 01 - Die Zeit vor Mitternacht

Titel: Nemesis 01 - Die Zeit vor Mitternacht Kostenlos Bücher Online Lesen
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schlichtes Schild über der Tür verkündete den Namen des Gasthauses: Zur Taube.
    »Sind Sie sicher, dass dies das richtige Gasthaus ist?«, erkundigte ich mich.
    »Hundertprozentig«, antwortete der Taxifahrer. »Es gibt hier nur das eine. Viel Spaß auch.« Er grinste mich unverhohlen schadenfroh an, stieg in seinen Wagen und fuhr davon. Ich starrte ihm missmutig nach, dann ergriff ich mein Reisegepäck und stieg die drei ausgetretenen hölzernen Stufen zum Eingang empor.
    Das Innere der Taube entsprach genau seinem Äußeren — rustikal; freundlich ausgedrückt. Es war eines jener einfachen Landgasthäuser, wie man sie eigentlich nur noch aus alten Spielfilmen in Technicolor kannte, nur ohne die Schönfärberei und nostalgische Verbrämtheit der Filme mit Theo Lingen und Heinz Rühmann. Das knappe halbe Dutzend Tische war niedrig und ebenso grob zusammengezimmert wie die dazugehörigen Stühle. Nur einer der Tische war besetzt. Der Raum wurde von einer verwitterten mehrteiligen Schiebetür begrenzt, die ihn wahrscheinlich in das Crailsfeldener Äquivalent eines Tanzbodens verwandeln konnte, sobald man sie öffnete. Die Theke war von undefinierbarer Farbe und so zerschrammt, dass man wahrscheinlich nicht einmal ein Glas darauf absetzen konnte, ohne dass es wackelte. Das Regal dahinter war ebenso grob und zweckmäßig wie der Rest der Einrichtung, aber es gab auch den obligaten Glasschrank mit seinen gelben Butzenscheiben, hinter denen sich Zigarettenschachteln, Schokoriegel und Päckchen mit Spielkarten stapelten. Einzige Ausnahme in diesem fast perfekten Fünfzigerjahre-Ambiente stellte eine ultramoderne Ministereoanlage dar, die auf einem nachträglich angebrachten Glasboden unter der Vitrine stand, eingerahmt von zwei gleich großen Türmen aus CDs und Musikkassetten.
    Und der Gastwirt der Taube.
    Jedenfalls nahm ich an, dass es der Wirt war — wofür eindeutig die Tatsache sprach, dass er auf der anderen Seite der misshandelten Theke stand und Gläser mit einem karierten Trockentuch polierte, während er mich über den Rand seiner winzigen John-Lennon-Brille hinweg aufmerksam musterte. Passend dazu trug er verwaschene Jeans, die so eng geschnitten waren, dass eigentlich nur noch die Leuchtpfeile fehlten, die auf sein bestes Teil deuteten, und ein nicht allzu sauberes weißes Hemd mit Rüschenkragen und -manschetten. Seine Halbglatze wurde von langem graubraunen Haar eingerahmt, das im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden war. Wäre er dreißig Jahre jünger gewesen und hätte ebenso viele Kilo weniger gewogen, hätte ich ihn nicht einmal eines zweiten Blickes gewürdigt. Aber so hatte ich Mühe, ein Grinsen zu unterdrücken. Hier in Crailsfelden schien die Zeit wirklich stehen geblieben zu sein.
    Aber immer noch besser ein übrig gebliebener Woodstock-Jünger als eine ganze Stadt voller Quasimodo-Klone.
    »Hi!«, sagte ich mit einiger Verspätung. Der Alt-Hippie hörte auf, an seinem Glas herumzupolieren, und sah mich einen Moment lang verständnislos an, und ich erinnerte mich daran, wo ich war, und verbesserte mich hastig:
    »Guten Abend.«
    »‘n Abend«, antwortete der Wirt. Er starrte mich weiter mit unverhohlener Neugier an. Ich vermochte weniger denn je zu beurteilen, ob Fremde hier gerne gesehen waren oder nicht, aber sie wurden ganz offensichtlich nur selten gesehen.
    »Mein Name ist Gorresberg«, sagte ich, zugegebenermaßen ein wenig unbeholfen. »Frank Gorresberg. Ich bin hier verabredet. Mit -«
    »Sie suchen diesen Anwalt, wie?«, unterbrach mich der Alt-Hippie.
    »Ja«, antwortete ich. Mir lag noch eine ganze Menge mehr auf der Zunge, aber ich sprach dann doch nicht weiter, sondern hob nur die Schultern und deutete ein Achselzucken an. Warum sollte ich eigentlich einem Wildfremden etwas erklären, was ihn nun wirklich nichts anging? »Ja, so könnte man es ausdrücken.«
    »Hab ich mir gedacht«, antwortete der Wirt. »Hier sieht man selten jemanden von außerhalb, aber dafür werde ich ja heute Abend reichlich entschädigt.« Er grinste mich einen Moment lang Beifall heischend an, aber dann schien er zu begreifen, dass ich nicht die Absicht hatte, über diese dümmliche Bemerkung zu lachen, und machte eine Kopfbewegung in Richtung des einzigen besetzten Tisches in der Gaststube.
    »Ihre Kollegen sitzen da drüben«, sagte er. »Etwas zu trinken?«
    »Vielleicht später.« Ich ergriff meine Reisetasche fester, drehte mich auf dem Absatz herum und sah mich unversehens mit dem ganz

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