Nemesis 01 - Die Zeit vor Mitternacht
nötig.
»Also noch einmal von vorne«, fuhr Ellen fort. Ihr Blick ruhte unangenehm lange und durchdringend auf mir. »Noch vor ein paar Stunden hat keiner von uns den anderen gekannt, obwohl wir doch angeblich miteinander verwandt sind. Andererseits — wenn man uns so ansieht, lässt sich eine gewisse Ähnlichkeit im Phänotypus nicht leugnen.«
»Phänotypus«, wiederholte Ed.
»Verwandtschaft«, erklärte Ellen. Diesmal verdrehte sie etwas mehr die Augen. »Familienähnlichkeit, wenn dir dieses Wort lieber ist, Eduard.«
Ed grinste nur noch breiter und sah abwechselnd von Ellen zu Maria und wieder zurück. »So richtig ähnlich sehen wir uns ja eigentlich nicht.«
»Gott sei Dank!«, murmelte Judith.
Ellen schüttelte seufzend den Kopf. »Ich finde schon«, sagte sie. »Für einen Wissenschaftler zählen manchmal andere Dinge als der erste, offensichtliche Eindruck, wisst ihr? Wir alle haben zum Beispiel blaue Augen.« Sie sah zu Judith hm. »Und fast alle sind blond.«
»Wenn dir das schon reicht, dann bin ich noch mit etwa fünf Millionen anderen in diesem Land verwandt«, entgegnete Judith patzig. »Ich dachte, wir wollten die Ebene der wilden Spekulationen verlassen und uns mit Fakten beschäftigen.«
»Und was hat das alles mit unserem Traum zu tun?«, fragte Maria. Sie schüttelte heftig den Kopf. »Dass sechs Leute fast identische Träume haben … Ich bin keine Wissenschaftlerin, aber ich sehe auch, wenn irgendwas nicht mit rechten Dingen zugeht.«
»Das ist vermutlich das Schlossgespenst.« Ed ließ wirklich keine Gelegenheit aus, sich zum Narren zu machen. Niemand reagierte auf ihn.
»Und dann noch diese Kopfschmerzen«, fuhr Maria fort.
Kopfschmerzen? Ich löste mich instinktiv aus Judiths Umarmung und richtete mich ein wenig weiter auf, um Maria fragend anzustarren.
»Seit wir in dieser gottverlassenen Ruine angekommen sind, bekomme ich immer wieder Migräneattacken«, bestätigte sie. Sie schien meinen Blick richtig zu deuten. »Du etwa auch?«
Ich nickte. »Ja, aber das heißt nichts. Ich bin mit Migräneattacken groß geworden. Allerdings sind sie schlimmer, seit wir hier sind.« Und häufiger.
»Stress«, konstatierte Ellen. »Das ist nicht außergewöhnlich. Migräne und Stress vertragen sich nicht besonders gut.«
»Möglich«, sagte Stefan. »Aber da ist noch etwas.« Er schien einen Moment nach den richtigen Worten zu suchen.
Als er weitersprach, klang er anders. So als wäre ihm das, was er sagte, selbst unangenehm. »Das Gefühl, dass einem die Sache irgendwie vertraut vorkommt. Ich weiß, es klingt verrückt, aber seit ich hier angekommen bin, habe ich dauernd das Gefühl, das alles schon einmal erlebt zu haben.«
»Glaub mir, mein Großer — ich wüsste, wenn wir uns schon einmal gesehen hätten«, stichelte Ed.
Stefan ignorierte ihn. »Ich habe das Gefühl, schon einmal hier gewesen zu sein«, beharrte er. »Ich meine: Ich weiß, dass ich noch nie hier war, weder in diesem Ort noch in diesem Gebäude. Und zugleich …« Er brach ab und hob hilflos die Schultern.
»Déja-vu«, sagte Ellen beckmesserisch. »So was kommt vor. Es gibt sogar eine wissenschaftliche Erklärung dafür.«
»Ach?«, fragte Judith.
»Interessiert sie euch?« Miss Allwissend wartete die Antwort natürlich gar nicht erst ab, sondern verschränkte die Arme vor der Brust und fuhr in nun eindeutig schulmeisterlichem Ton fort: »Im Grunde ist es ganz einfach.
Das menschliche Gehirn besteht aus zwei Hälften, die zwar im Prinzip eine Einheit bilden, dennoch aber weitgehend unabhängig voneinander arbeiten. Manchmal kommt es vor, dass die eine Hälfte ein Ereignis aufnimmt und bereits als Erinnerung abspeichert, während die andere noch dabei ist, es zu verarbeiten. Und schon hat man das Gefühl, etwas schon einmal erlebt zu haben. Ist im Grunde ganz simpel.«
»Ich finde es ziemlich blödsinnig«, murmelte Ed.
»Ja, das habe ich mir gedacht«, antwortete Ellen. »Ich sage ja auch nicht, dass es hier so war. Es ist nur eine Möglichkeit. Die andere —«
»Was ist nur eine Möglichkeit?« Von Thuns Stimme bewahrte uns nicht nur vor einem weiteren hochwissenschaftlichen Vortrag, sondern schnitt auch so unangenehm in meine Gedanken, dass ich erschrocken herumfuhr und den Alten geschlagene zehn Sekunden so erschrocken anstarrte, als wäre er das leibhaftige Schlossgespenst, von dem wir gerade gesprochen hatten.
Dabei war an ihm in diesem Moment noch viel weniger Erschreckendes als vorhin. Ganz im
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