Nemesis 01 - Die Zeit vor Mitternacht
Gegenteil: Der Alte wirkte buchstäblich wie die Karikatur des mittellosen Adeligen aus einem Fünfzigerjahre-Spielfilm: Er trug einen abgetragenen roten Morgenmantel mit aufgesticktem Wappenschild auf der Brusttasche, darunter einen gestreiften Pyjama, der irgendwann in den Fünfzigern (des vorletzten Jahrhunderts) vielleicht einmal als chic gegolten haben mochte. Den krönenden Abschluss bildeten ausgelatschte Filzpantoffeln, aus denen beängstigend zerbrechlich wirkende Knöchel herausstachen.
»Darf ich fragen, was dieser Volksauflauf zu bedeuten hat?«, fragte von Thun mit einer Stimme, der noch immer ein Echo vergangener Macht innewohnte. Eigentlich mehr die Stimme eines Lehrers, dachte ich, der es gewohnt war, dass man auf ihn hörte. Vielleicht war dieser sonderbare alte Kauz in Wirklichkeit mehr, als er zu sein vorgab.
Zumindest etwas anderes. Das war nicht das Auftreten eines naiv altmodischen Anwaltsgehilfen, sondern — »Na, was denkst denn du, Alterchen?«, fragte Ed grienend. Er machte eine wedelnde Handbewegung, die alle hier im Raum einschloss. »Wir konnten uns über die Paarungen nicht einigen, die sich aus den Klauseln dieses bescheuerten Testaments ergeben.«
»Wie bitte?« Von Thun blinzelte verständnislos.
»Na, ist doch klar«, sagte Ed feixend. Er deutete auf Ellen. »Wir alle wollten natürlich mit der coolen Ellen in die Kiste hüpfen. Da mussten wir Jungs uns entscheiden, ob wir die Beute mit ‘ner Runde Flaschendrehen verteilen oder ob wir es auf die altmodische Art auf dem Burghof mit Fäusten austragen.«
»Das entspricht zwar nicht ganz den Tatsachen, aber ein Teil davon gefällt mir«, sagte Stefan ruhig. Er stand auf, bevor Ed Gelegenheit zu einer weiteren dämlichen Bemerkung bekam, und trat einen Schritt zur Seite, um einen weiteren der billigen Plastikstühle heranzuziehen. »Nehmen Sie doch Platz. Einen Kaffee?«
»Kaffee?« Von Thun blinzelte, wirkte für einen Moment noch verwirrter und hilfloser als bisher und zog dann eine altmodische Taschenuhr an einer dünnen Goldkette aus seinem Morgenmantel. Ein hörbares Klick erscholl, als er den Deckel aufklappte. »Um diese Zeit? Um Gottes willen, es ist fast Mitternacht, wissen Sie das eigentlich?«
»Ich hoffe, wir haben Sie nicht geweckt«, sagte Judith rasch. »Wir waren doch nicht zu laut?«
»Ich konnte ohnehin nicht schlafen«, behauptete von Thun. »In meinem Alter braucht man nicht mehr so viel Schlaf, wissen Sie? Trotzdem sollten Sie sich zurückziehen.
Immerhin haben Sie alle morgen einen anstrengenden Tag vor sich.«
Er sah uns der Reihe nach an und schien darauf zu warten, dass wir aufspringen und sofort gehorsam in unsere Zimmer eilen würden. Als das nicht geschah, wirkte er enttäuscht, vielleicht sogar ein bisschen verärgert.
»Vielleicht ist das ja gerade der Grund, aus dem wir nicht schlafen können«, antwortete Judith. »Wir sind natürlich … ein bisschen aufgeregt, wie Sie sicherlich verstehen können.«
»Selbstverständlich«, antwortete von Thun — in einem Ton, der mehr als deutlich machte, dass er uns ganz und gar nicht verstand. »Ich schlage aber trotzdem vor, dass Sie dieses Mitternachtstreffen beenden und sich zurückziehen.«
Sein Blick löste sich von Judiths Gesicht und irrte auf eine Weise durch den Raum, als suche er nach etwas ganz Bestimmtem — nein, falsch. Er befürchtete, etwas ganz Bestimmtes zu sehen, was aber offensichtlich nicht geschah.
Warum eigentlich?, fragte Ellens Blick. Willst du nicht, dass wir irgendetwas Bestimmtes herausfinden? Sie sprach diese Worte nicht laut aus, aber den Reaktionen der anderen nach zu schließen war ich nicht der Einzige, der sie irgendwie trotzdem hörte. Vielleicht bewegten sich unsere Gedanken auch alle in die gleiche Richtung.
Aber es war seltsam: Nicht nur Maria, sondern nach einem kurzen Moment auch Judith und schließlich sogar Ed erhoben sich gehorsam von ihren Stühlen, und schließlich beobachtete ich fast erstaunt, wie ich selbst als Letzter aufstand, meine Zigarette in den Aschenbecher drückte und dann auch noch ordentlich meinen Stuhl zurückschob. Von Thun mochte aussehen wie eine Witzfigur — und sich vermutlich auch ganz bewusst alle Mühe geben, diesen Eindruck noch durch sein Benehmen zu verstärken —, aber er strahlte eine Autorität aus, der nicht einmal Ellen etwas entgegenzusetzen hatte. Vielleicht wollte sie es auch gar nicht.
»Bitte verstehen Sie mich nicht falsch«, sagte von Thun.
»Es steht mir
Weitere Kostenlose Bücher