Nemesis 02 - Geisterstunde
griff in die Tasche ihres Morgenmantels und förderte mit einer schon fast unbewussten Bewegung Zigaretten und eine Schachtel Streichhölzer zutage. Die Marlboro steckte sie sofort und mit einem fast verlegen wirkenden, flüchtigen Lächeln wieder ein, wie eine Internats-Schülerin, die um ein Haar von ihrer gestrengen Oberlehrerin beim Rauchen ertappt worden wäre, die Streichholzschachtel reichte sie Carl. Er nahm sie entgegen, stellte die Lampe auf den Boden und ließ sich in die Hocke sinken. So ungeschickt, wie er den Glaskolben der Petroleumlampe in die Höhe zu hebeln versuchte, musste das Ding entweder hoffnungslos eingerostet sein, oder er hatte nicht die geringste Ahnung, wie man damit umging.
Er verbrauchte insgesamt vier Streichhölzer, bevor es ihm gelang, den Docht in Brand zu setzen.
»Seid bitte vorsichtig«, sagte er, während er sich aufrichtete und die Lampe – die tatsächlich keine nennenswerte Helligkeit zu verströmen schien – am ausgestreckten Arm so weit von sich weg hielt, wie es nur ging. Aber aus seiner Stimme war der patzige Unterton verschwunden. Er klang jetzt tatsächlich besorgt. »Da drin liegt aller mögliche Krempel herum. Zwei Verletzte in einer Nacht reichen.«
Judith und ich waren auch diesmal die Letzten, die ihm folgten. Im allerersten Moment drohte mich die Panik zu übermannen. Mein Atem ging schneller; vielleicht nur für zehn Sekunden, aber so heftig, dass es fast wehtat, begann mein Herz zu rasen, und meine Finger zitterten nunmehr so heftig, dass es Judith gar nicht mehr entgehen konnte. Die Dunkelheit schien aus allen Richtungen zugleich auf mich einzustürmen und die Monster aus meiner Phantasie sprengten endgültig ihre Ketten und fielen mit blitzenden Zähnen und Klauen über mich her.
Aber die Panikattacke war auch fast ebenso schnell wieder vorüber, wie sie gekommen war. Ich biss die Zähne zusammen und zwang mich, starr auf den schwammigen Klecks aus gelbem Licht zu starren, in den sich Carls Lampe verwandelt hatte, und nach den ersten Schritten wurde es tatsächlich besser. Das schmutzige Glas verschluckte den Großteil des Lichtes, aber in der vollkommenen Dunkelheit, die hier unten herrschte, reichte der Rest immer noch aus, um sich notdürftig zu orientieren.
Carl hatte die Wahrheit gesagt: Dieser Keller hatte nichts mit dem fast klinisch anmutenden Gang zu tun, durch den wir gekommen waren. Seine Größe war schwer abzuschätzen, denn das blasse Licht verlor sich in der Dunkelheit, bevor es die Wände erreichen konnte, aber der Boden bestand aus genau demselben Kopfsteinpflaster, das ich draußen vermisst hatte, und in regelmäßigen Abständen wuchsen gemauerte Säulen aus ihm heraus, die die Gewölbedecke über unseren Köpfen trugen. Zu meiner Beunruhigung stellte ich fest, dass nicht alle von ihnen unbeschädigt waren, und meine Schritte hallten zwar hohl auf dem harten Boden und kehrten als verzerrte Echos aus der Schwärze zurück, aber ich stieß auch immer wieder gegen Schutt und sogar ganze Ziegelsteine; vergeblich versuchte ich mir einzureden, dass sie nicht aus der Decke gebrochen waren. Die Luft roch jetzt nicht mehr nach Nitroverdünnung und Kalk, sondern nach Moder und verschimmeltem Holz und ganz schwach vielleicht auch nach Verwesung. Ohne dass ich es wollte oder auch nur selbst merkte, schlossen Judith und ich dichter zu Carl und den beiden anderen auf; hinein in den unregelmäßigen Kreis aus zerfasertem gelbem Licht, der den einzigen Schutz vor der unheimlichen Dunkelheit bildete, die immer näher zu rücken schien. Irgendwo in dieser Schwärze waren Geräusche: Wasser tropfte. Ein ganz sachtes, regelmäßig an- und abschwellendes Brummen, wahrscheinlich das Geräusch des Generators, von dem Carl erzählt hatte. Aber da waren auch noch andere Laute. Etwas raschelte. Ein Huschen. Einmal glaubte ich ein hohes, dünnes Fiepen zu hören, und es war keine Einbildung, denn Judith fuhr im gleichen Moment erschrocken neben mir zusammen und klammerte sich so fest an mich, dass es fast wehtat.
Lebten Fledermäuse auch in Kellern? Ich wusste es nicht.
Mein Wissen über sie beschränkte sich zum Großteil auf die Tatsache, dass es sie gab und dass man sie oft in Kirchtürmen oder nicht ausgebauten Dachböden fand, aber das bedeutete nicht, dass sie nicht auch in einem so gemütlichen, dunklen Gewölbekeller wie diesem anzutreffen wären. Judith hätte mir diese Frage vermutlich beantworten können, und um ein Haar hätte ich sie sogar
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