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Nemesis 02 - Geisterstunde

Nemesis 02 - Geisterstunde

Titel: Nemesis 02 - Geisterstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
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Frau und unterlag so dem umfangreichen Bedienungshandbuch ihrer Spezies: Wenn es sein muss, komm sturzbetrunken und zu spät nach Hause, latsch mit Hundescheiße unter den Schuhsohlen über den weißen Teppich und drück deine Kippen in das Seramis unter der Yuccapalme, aber hör ihr zu!
    Egal, was sie sagt, egal, wann und wie und wo sie es sagt, gib ihr bloß nicht das Gefühl, dass dir ihre Worte gleich sind.) Schließlich gab es seit unserer Ankunft in Crailsfelden streng genommen nichts mehr, was nicht auf die eine oder andere Weise seltsam, um nicht zu sagen vollkommen absurd war. Hier unten schon mal gar nicht.
    Ich wollte weg.
    Judith deutete mit einer Kopfbewegung auf das briefmarkengroße Stück, das ich mühevoll halbwegs freigekratzt hatte. »Das ist altdeutsche Schrift«, sagte sie.
    Ich sah noch einmal hin und hob die Schultern. Was mich anging, hätte es auch altbabylonische Keilschrift sein können, es machte keinen Unterschied. Aber es bedrückte mich auch nicht wirklich. Mit jeder Sekunde, die wir hier unten zubrachten, mit jedem Atemzug der feuchten, kühlen, leicht modrig schmeckenden Luft, die in meine vor sich hin schmachtenden Lungen strömte, wuchs das Bedürfnis in mir, einfach auf dem Absatz umzudrehen und davonzustürmen. Aber mittlerweile war es nicht mehr Angst, die diesen Wunsch aus mir hervorkitzelte. Es war die plötzliche, unerschütterliche Gewissheit, auf keinen Fall hier sein zu dürfen. Obwohl ich schon einmal hier gewesen war ...
    »Fraktur«, mischte sich Maria ein. Auch sie hatte offensichtlich keine Lust, Stefans und Carls zeremoniellem Balztanz weiter zuzusehen, und war uns gefolgt; nur, dass es mir bei ihr fast unangenehm war.
    »Aha«, sagte ich abwesend. »Und?«
    Maria schüttelte den Kopf. »Das ist Frakturschrift«, sagte sie noch einmal. »Früher wurde alles so gedruckt.
    Aber sie ist irgendwann in den vierziger Jahren aus der Mode gekommen.«
    »So etwas wie Sütterlin?«, vermutete Judith.
    »Nein«, antwortete Maria. »Auch wenn die meisten es dafür halten. Das Zeug hier muss mindestens sechzig oder siebzig Jahre alt sein.« Sie schauderte übertrieben.
    Ihr Blick folgte den uralten Stromleitungen bis zu der Stelle, an der sie in der Wand verschwanden. Wenn man sie in Gedanken verlängerte, musste man ziemlich genau bei dem überdimensionalen Stromgenerator auf der anderen Seite der Mauer herauskommen. Was immer vor nahezu einem Menschenalter einmal hier gestanden hatte, das schien eine Menge Strom verbraucht zu haben. Und es war seltsam: Ganz plötzlich hatte ich das Gefühl, eigentlich wissen zu müssen, was es war. Es war beinahe wie vorhin, oben in meinem Zimmer: Obwohl ich ganz bestimmt noch niemals hier gewesen war, hatte ich plötzlich ein so intensives Gefühl von De-ja-vu, dass mir ein kalter Schauer über den Rücken lief.
    Und diesmal funktionierte auch Judiths selbst gebastelte Erklärung nicht. Möglicherweise traf sie auf die Zimmer oben im Dachgeschoss zu, und mein Unterbewusstsein verband sich tatsächlich mit allen Bildern, Filmen und Klischees, die ich jemals über Internate gehört und gesehen hatte – aber ein muffiges Gewölbe, ein Stromgenerator, der mir stark genug vorkam, um eine kleine Stadt zu versorgen, und eine Schalttafel aus dem Elektro-Museum gehörten ganz sicherlich nicht zu den Vorstellungen, die ich mit einem Internat verband.
    Und das war es noch nicht einmal allein. Dass mir dieser Raum auf schon fast unheimliche Weise bekannt – vertraut! ? – vorkam, war schon schlimm genug, aber ich spürte ganz genau, dass hier etwas fehlte. Nicht nur die Schränke, die ihre geisterhaften Schatten an der Wand hinterlassen hatten, oder die Gerätschaften, zu denen die Kabel einst geführt hatten. Da war noch mehr. Hier war etwas gewesen, was –
    »Unheimlich«, murmelte Judith, und der Gedanke war weg.
    Für den Bruchteil einer Sekunde hasste ich sie fast. Ich hatte das Gefühl gehabt, der Lösung ganz nahe zu sein.
    Es war da gewesen. So nahe, dass ich nur die Hand hätte auszustrecken brauchen, um es zu ergreifen, aber Judiths Stimme hatte es verscheucht; wie ein scheues Tier, das für den Bruchteil einer Sekunde unaufmerksam gewesen war und sich dann hastig wieder versteckt hatte.
    »Ja«, antwortete ich. Anscheinend hörte man meiner Stimme mehr von meinen wahren Gefühlen an, als mir lieb war, denn Judith sah verwirrt zu mir auf und blickte für einen Moment regelrecht erschrocken. Sie wollte eine Frage stellen, aber ich drehte mich

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