Nemesis 02 - Geisterstunde
Wahrscheinlich würde jeder durchdrehen, an unserer Stelle.«
Das war ganz gewiss nicht das, was sie hatte hören wollen. Es war nicht einmal das, was ich selbst glaubte.
Judith hatte Recht. Mit diesem Haus stimmte etwas nicht, und sie (und alle anderen vermutlich auch) spürte es so deutlich wie ich. Aber ich war einfach nicht bereit, dafür irgendetwas anderes als einen rationalen Grund zu akzeptieren.
Vielleicht noch nicht.
»Ja, wahrscheinlich hast du Recht«, antwortete sie mit einem neuerlichen nervösen Lächeln. »Komm, gehen wir zu den anderen. Bevor Stefan wirklich noch eine Dummheit macht.«
Hand in Hand eilten wir durch den großen, sonderbar stillen Raum zurück in die Küche und kamen gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie Stefan Carl mit dem Klebeband an einen Stuhl fesselte. Er ging ziemlich verschwenderisch damit um. Offensichtlich hatte er sich vorgenommen, den armen Kerl in die moderne Version einer ägyptischen Mumie zu verwandeln, denn er hatte nicht nur seine Hand- und Fußgelenke mit braunem Packband an den Plastikstuhl gefesselt, sondern umwickelte auch seinen Oberkörper mehrfach damit. Judith zog fragend die linke Augenbraue hoch.
»Ihr wart schnell«, begrüßte uns Ed. »Schade, dass ich nicht dabei war. Aber ihr habt mir ja noch etwas übrig gelassen.«
Niemand beachtete ihn. Nachdem Stefan fast seine gesamte Rolle Klebeband verbraucht hatte, ließ er den Rest achtlos fallen und ging vor Carl in die Hocke, so dass sich ihre Gesichter auf gleicher Höhe befanden. Was er sah, schien ihm nicht zu gefallen.
»Ich tue das nicht gern«, behauptete er. Habe ich schon erwähnt, dass auch er kein besonders guter Schauspieler war? »Das macht mir bestimmt keinen Spaß, aber Sie lassen uns keine andere Wahl.«
»Ihr seid ja komplett verrückt!«, sagte Carl. »Ich werde euch anzeigen, das ist euch doch klar, oder? Das ist Freiheitsberaubung.«
Stefan verzog das Gesicht und stand mit einem Ruck auf. In fast nachdenklichem Ton sagte Ellen: »Eigentlich spielt es doch jetzt gar keine Rolle mehr, wenn auch noch ein bisschen Körperverletzung dazukommt, oder? Ich meine: Ich kenne da die eine oder andere Methode, die keinerlei Spuren hinterlässt.«
Carl wurde noch blasser und starrte sie mit aufgerissenen Augen an, und auch ich blickte Ellen einen Moment verwirrt ins Gesicht. Es war fast unheimlich – sie hatte fast wörtlich genau das ausgesprochen, was ich in diesem Moment gedacht hatte. Aber sie war Ärztin, und von so jemand hätte ich eine solche Bemerkung zuallerletzt erwartet! Was ging hier vor?
»Verdammt noch mal, was wollt ihr von mir?«, fragte Carl. »Ich habe alles gesagt, was ich weiß!«
»Das Dumme ist nur, dass wir Ihnen nicht glauben«, antwortete Stefan. Carl wurde noch ein bisschen blasser, sagte aber jetzt gar nichts mehr. Stefan starrte ihn noch einen Moment lang wortlos an, bevor er sich auf dem Absatz herumdrehte und an einen der Schränke trat.
Lautstark scheppernd begann er in einer Schublade herumzukramen. »Also – wie kommen wir hier raus?«
»Es gibt keinen anderen Ausgang«, beteuerte Carl. Die Verzweiflung in seinen Augen wirkte sogar fast überzeugend. Vielleicht sagte er tatsächlich die Wahrheit. Das Problem war gar nicht, dass ich nicht glauben konnte. Ich wollte es nicht.
»Und ein Telefon?«, fragte Ellen. »Eines mit Festnetzanschluss?«
»Es gibt einen Apparat im früheren Direktorzimmer, aber der ist tot«, antwortete Carl. »Ist schon vor Jahren abgeschaltet worden. Wozu auch? Schließlich steht dieser Kasten seit einer Ewigkeit leer.«
Stefan schien gefunden zu haben, wonach er gesucht hatte. Mit sichtbar zufriedenem Gesichtsausdruck zog er eine Geflügelschere aus der Schublade. »Viel besser als ein Messer«, sagte er und ließ die Schere ein paarmal hörbar auf- und zuschnappen. Mit einem hässlichen metallischen Geräusch schrammten die Klingen übereinander. Prüfend strich er mit dem Daumen über die Schneide.
»Könnte ein bisschen schärfer sein«, sagte er, »aber es wird schon reichen.«
Carls Augen wurden groß. »Was ... was haben Sie vor?«, murmelte er.
Stefan tauschte einen raschen Blick mit Ellen, während er langsam wieder zu Carl ging und dabei rhythmisch mit der Schere klapperte. »Wir unterhalten uns nur mit Ihnen«, antwortete er mit perfekt geschauspielerter Freundlichkeit. »Vielleicht fällt Ihnen ja doch noch ein, wo der Ausgang ist.«
Carl begann – selbstverständlich vollkommen vergeblich -, gegen seine Fesseln
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