Nemesis 02 - Geisterstunde
können. Ich sah, wie es in die Haut über seinen Handgelenken schnitt und dünne, blutige Striemen darin hinterließ.
»Fang mit dem Daumen an der rechten Hand an«, riet Ellen lächelnd. »Dann ist Schluss mit dem heimlichen Graben. Ohne Daumen kann man kein Werkzeug halten.« Sie kramte eines der wenigen noch übrig gebliebenen Päckchen mit Verbandsmull aus dem Erste-Hilfe-Kasten, warf es in die Luft und fing es geschickt wieder auf. »Ich kümmere mich dann um die Wunde, damit er uns nicht wegstirbt. Leider habe ich keine Aderpresse, also wäre Ausbrennen vermutlich am besten.« Sie drehte den Kopf in Eds Richtung, der noch immer grinsend auf der Tischkante saß und mit den Beinen baumelte.
»Könntest du den Gasherd anwerfen und ein Messer heiß machen? Eins mit einer breiten Klinge.«
Judiths Blick wanderte immer verwirrter zwischen Ellen, Stefan und mir hin und her. Sie begann die Hände zu ringen.
»Nein!«, wimmerte Carl. Seine Stimme begann sich zu überschlagen. Kalter Schweiß rann über sein Gesicht, während er weiter jammerte, heulte und bei allem, was ihm heilig war (viel konnte es nicht sein, vermutete ich), schwor, dass er nicht wusste, was wir überhaupt von ihm wollten. Ed ließ sich mit einer Bewegung von der Tischkante gleiten, die seine bisher zur Schau getragene Schwäche Lügen strafte, ging zum Herd und riss ein Streichholz an, mit dem er die kleine Gasflamme entzündete.
»Am besten wickelst du irgendetwas um den Griff, damit du dich nicht verbrennst«, riet ihm Ellen, ohne hinzusehen. »Sonst habe ich am Ende noch zwei Patienten, und eine Heulsuse reicht mir im Moment.«
Meine Hand juckte. Ich begann die kleine gerötete Stelle zwischen Daumen und Zeigefinger zu massieren, ohne hinzusehen, und versuchte mit fast verzweifelten Blicken, Ellens Aufmerksamkeit zu erregen.
»Frank!«, sagte Judith.
Sie hatte ja Recht. »Ich ... ich finde, das reicht jetzt wirklich«, sagte ich, an niemand Bestimmten gewandt und auch nicht annähernd mit so fester Stimme, wie ich gewollt hatte. Niemand nahm meine Worte auch nur zur Kenntnis, und ich wiederholte sie auch nicht, sondern ballte nur hilflos die Fäuste und konnte nichts anderes tun, als Judiths Blick, der nun eindeutig fordernd und vorwurfsvoll wurde, mit einem Achselzucken zu beantworten. Selbst wenn ich hätte reden wollen, plötzlich konnte ich es nicht mehr. Ein bitterer Geschmack nach Galle war mit einem Male in meinem Mund, und die Kopfschmerzen, die seit unserer Rückkehr aus dem Keller zwar schwächer geworden waren, aber immer noch permanent irgendwo hinten in meinem Schädel rumorten, wurden plötzlich schlimmer. Es war kein Migräneanfall, sondern etwas anderes, gegen das die mentalen Techniken, die ich im Laufe meines Lebens schon aus purem Selbstschutz entwickelt hatte, nicht halfen. Ein greller Stich zuckte durch meine Schläfen, wie eine glühende Nadel, die schnell und präzise diagonal durch meinen ganzen Schädel gezogen wurde.
Gepeinigt kniff ich die Augen zusammen, und ...
... war nicht mehr in der Küche.
Auch nicht mehr in der Burg.
Stattdessen rannte ich durch die Straßen einer brennenden Stadt, verfolgt von einem aufgebrachten, tobenden Mob, an meiner Hand ein kleines Mädchen, das ich hinter mir herzerrte.
»Warum tust du das?«, jammerte Miriam. »Warum tust du mir das an?«
Das Toben und Brüllen der Menge hinter uns wurde lauter. Schritte kamen naher. Ich konnte die Gewalt riechen, die in der Luft lag. Als ich einen Blick über die Schulter zurückwarf, sah ich, dass die Meute aufgeholt hatte und immer noch weiter aufholte, nicht sehr schnell, aber unbarmherzig. Ich versuchte ebenfalls, schneller zu laufen, und irgendwie gelang es mir, trotz meiner Panik, trotz meines hämmernden Herzens, das in meiner Brust zerspringen wollte, trotz des wimmernden Mädchens an meiner Hand, das alles in seiner Macht stehende tat, um mich aufzuhalten. Aber ganz egal, wie schnell ich auch lief, die Verfolger waren schneller, kamen näher. Nicht mehr lange, und sie hatten uns eingeholt. Ich konnte die Mordlust in den Gesichtern der Männer und Frauen sehen. Der blanke Hass, der keinen Grund und keine Entschuldigung brauchte, sondern einfach da war. Keine Gnade, schrien ihre Blicke. Sie würden uns töten, wenn sie uns einholten. Sie würden mich töten und Miriam ...
Mit einem halb erstickten Keuchen riss ich die Augen wieder auf und die Vision verschwand. Judith rückte dichter an mich heran, griff sacht nach meinem
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