Nemesis 02 - Geisterstunde
Knie zitterten so heftig, dass ich mir vielleicht auch Sorgen um den zweiten Stuhl machen sollte, auf dem er saß. Nein, dachte ich, Judith hat Recht.
Carl bot einen erbarmungswürdigen Anblick und ganz bestimmt nicht mehr den eines Mannes, der noch weiter lügen würde. Zugleich kam ich mir schäbig vor. Einen erwachsenen Mann vor Angst zum Weinen zu bringen war nichts, worauf man stolz sein konnte.
Judith kramte ihr Handy hervor, schaltete es ein und blickte stirnrunzelnd auf das Display. »Kein Empfang«, seufzte sie nach einigen Augenblicken. Mit einer resignierten Geste steckte sie das Gerät wieder ein und fügte leiser hinzu: »Wir sitzen wirklich hier fest.«
»Gib dir keine Mühe«, sagte Ellen und tat einen weiteren tiefen Zug an ihrer Zigarette. »Hab ich schon ausprobiert, während ihr unten im Keller wart.«
»Dann suchen wir doch den Apparat, von dem Carl erzählt hat«, schlug Judith vor. »Ich meine -« Sie wandte sich in Stefans Richtung um. »Vielleicht kann man ihn ja irgendwie wieder anschließen. Hast du nicht gesagt, dass du etwas davon verstehst?«
»Nein«, antwortete Stefan. »Aber man muss auch nichts von Telefonen verstehen, um zwei Drähte in die Buchse zu schieben. Nur fürchte ich, dass die Leitung abgeschaltet sein wird.«
»Wir könnten es wenigstens versuchen«, sagte Maria schüchtern.
»Ja«, sagte Stefan spöttisch. »Genauso gut können wir aber auch warten, bis es hell wird, und Rauchzeichen geben.« Er starrte einen Moment lang nachdenklich ins Leere, dann drehte er sich zu Carl herum. »Wie lange wird es dauern, bis jemand herkommt und nach uns sucht?«
Eigentlich war ich sicher, dass er gar nicht antworten würde. Stefan offensichtlich auch, denn als der Wirt schließlich die Hände herunternahm und ihn aus geröteten Augen anstarrte, wirkte er regelrecht überrascht.
»Suchen?«, fragte er. »Wer sollte euch denn suchen?«
Ich sah aus den Augenwinkeln, dass Ed schon auffahren wollte, doch Stefan hob rasch die Hand und brachte ihn zum Schweigen, noch bevor er überhaupt etwas sagen konnte. »Wahrscheinlich hat er Recht«, sagte er.
»Niemand weiß, dass ihr hier seid. Der Einzige, der uns vermissen könnte, ist er.«
»Das heißt, wir sitzen hier fest?«, fragte Ed. »Es kann Wochen dauern, bis uns jemand findet!«
»Red keinen Unsinn«, sagte Ellen. »Vielleicht vermisst uns ja niemand, aber ihn.« Sie deutete auf Carl.
»Spätestens im Laufe des Tages wird sich irgendjemand Gedanken machen und sich fragen, wo er abgeblieben ist.« Sie wandte sich mit einem fragenden Blick an Maria, aber die Antwort, die sie bekam – beziehungsweise nicht bekam -, schien nicht unbedingt die zu sein, auf die sie gehofft hatte. »Und wenn nicht, können wir tatsächlich ein Feuer irgendwo oben auf der Burgmauer machen. Jemand wird es schon sehen.«
»Ich werde ganz bestimmt nicht die Hände in den Schoß legen und darauf warten, dass jemand kommt«, sagte Stefan. »Ihr könnt ja machen, was ihr wollt, aber ich bleibe keine Minute länger in diesem Spukschloss als unbedingt nötig.«
»Ach?«, fragte Judith. »Und was willst du machen?
Vielleicht über die Burgmauer klettern?«
Stefan nickte. »Und warum nicht? So hoch ist sie auch wieder nicht.«
»Aber das ist doch verrückt«, sagte Maria. »Du wirst dir sämtliche Knochen brechen!«
»Kaum«, antwortete Stefan in leicht verächtlichem Ton. »Ich bin vielleicht kein Reinhold Messner, aber ich war oft genug im Gebirge, um keine Angst vor einer fünf Meter hohen Mauer zu haben. Auf jeden Fall sehe ich sie mir an.«
»Lass den Unsinn«, sagte Judith. »Ich finde, ein Toter reicht.«
»Mir passiert schon nichts«, antwortete Stefan, und irgendwie war es gerade der ruhige, fast besänftigende Ton, in dem er diese Worte aussprach, der mich davon überzeugte, dass er Recht hatte. Gab es eigentlich irgendetwas, was dieser Kerl nicht konnte?
»Er hat Recht, Schätzchen«, sagte Ed, der immer noch an seinem verbrannten Zeigefinger herumnuckelte, aber vorsichtshalber erst, nachdem sich Stefan umgedreht und die Küche verlassen hatte. »Du brauchst dir keine Sorgen um ihn zu machen. Hast du nicht gesehen, was er unter Hemd und Hose trägt?« Er grinste dämlich. »Ich meine diesen blauen Strampelanzug mit dem roten S auf der Brust.«
»Warum hat mich eigentlich vorhin keiner von euch bewusstlos geschlagen, als ich versucht habe, diesem Idioten zu helfen?«, fragte Ellen. Sie zog erneut an ihrer Zigarette und musterte Ed auf eine
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