Nemesis 02 - Geisterstunde
gebliebenen Dachbalken zur Mauer hin balancierte. Ohne auch nur sichtbar in der Bewegung innezuhalten, turnte er die verbliebenen anderthalb Meter bis auf den alten Wehrgang hinauf, ließ sich – diesmal ohne dass es meiner Aufforderung bedurft hätte – erneut in die Hocke nieder und half mir, ihm auf die Mauer hinauf zu folgen. Mein Herz hämmerte wie verrückt, als ich mich neben ihm aufrichtete und an eine Lücke zwischen zwei der fast meterhohen zerbröckelnden Zinnen trat.
Der Anblick, der sich uns dahinter bot, beruhigte mich auch nicht unbedingt – obwohl ich im Grunde nichts sah.
Auf der anderen Seite der Mauer gähnte ein bodenloser schwarzer Abgrund.
»Und so was macht dir also Spaß?«, fragte ich schwer atmend.
»Was?«
Ich machte eine wedelnde Handbewegung hinter mich.
»In völliger Dunkelheit über tausend Jahre alte Burgmauern zu klettern«, antwortete ich.
Stefan blieb ernst. »Erstens ist es nicht völlig dunkel«, antwortete er, »und zweitens habe ich nicht gesagt, dass es mir Spaß macht.« Er hob beruhigend die Hand, als ich etwas sagen wollte. »Keine Sorge. Ich bin nicht lebensmüde. Ich will mich nur umsehen, das ist alles.«
Aber was um alles in der Welt will er denn sehen?, fragte ich mich. Meine Augen hatten sich mittlerweile – fast – an die Dunkelheit gewöhnt. Bei Tageslicht hätten wir vermutlich einen geradezu sensationellen Ausblick auf das gesamte Tal und die Stadt am Fuße des Burgberges gehabt, jetzt aber war Crailsfelden allenfalls zu erahnen. Hier und da brannte ein einzelnes blasses Licht, und irgendwo am anderen Ende des Talkessels schwamm ein winziger roter Lichtfleck in der Dunkelheit; ich erinnerte mich flüchtig an die Leuchtreklame der kleinen Tankstelle, die wir am Ortseingang passiert hatten. Davon abgesehen reichte das blasse Sternenlicht nicht einmal aus, um den Fuß der fünf Meter hohen Mauer zu erkennen, wie ich voller Unbehagen feststellte, als ich mich vorbeugte und in die Tiefe sah.
»Und da willst du runter klettern?«, fragte ich zweifelnd. »Judith hatte Recht, weißt du? Du musst nicht den Helden spielen.«
»Wer sagt denn, dass ich in den Helden spiele?«, gab Stefan mit einem angedeuteten Grinsen zurück, wurde dann aber schlagartig wieder ernst. »Ein Seil wäre vielleicht nicht schlecht«, sagte er. »Hast du zufällig gesehen, ob Carl ein Abschleppseil im Wagen hat?«
Ich hatte zwar nicht darauf geachtet, war mir aber ziemlich sicher, dass es so war; Carl war einfach der Typ, der ein Abschleppseil im Wagen hatte. Gleich unter dem mit Marihuana und selbst gezogenem Mohn ausgestopften Verbandskasten, vermutete ich. Dennoch zögerte ich zu antworten. Die Vorstellung, noch einmal über das baufällige Dach nach unten zu balancieren und vor allem noch einmal in den zerknautschten Landrover hineinzukriechen, in dem ich um ein Haar ums Leben gekommen wäre, jagte mir einen eisigen Schauer über den Rücken.
Noch bevor ich antworten konnte, fiel ein bleicher Lichtschein über den Hof, tastete sich mit kleinen nervösen Rucken an der Burgmauer und an Stefans Gestalt empor und blieb schließlich an seinem Gesicht hängen.
Stefan kniff die Augen zusammen und hob schützend die Hand, und auch ich drehte mich überrascht herum und suchte nach dem Ursprung des Lichtstrahles.
»Ich dachte, das hier könnt ihr gebrauchen«, drang Judiths Stimme vom Hof herauf. Hinter dem grellweißen Stern, den sie in der Hand trug, war ihre Gestalt nur als verschwommener Schatten zu erkennen, der irgendwie nicht wirklich menschlich wirkte. Etwas Großes, Zerfetztes schien ihre Schultern zu umfließen, wie ein Mantel aus geronnener Dunkelheit. Obwohl sie sich schnell bewegte, blieb der Lichtstrahl des kleinen Scheinwerfers nahezu reglos auf Stefans Gesicht gerichtet, was dieser mit einem nicht unbedingt erfreuten Blick kommentierte.
Er sagte nichts.
Judith blieb gerade weit genug entfernt stehen, dass das Schuppendach den Lichtstrahl nicht abschnitt, und legte erwartungsvoll den Kopf auf die Seite. »Wäre einer der Gentlemen vielleicht so nett, einer Dame hinaufzuhelfen?«
»Hältst du das für eine gute Idee?«, fragte ich. Stefan schwieg beharrlich weiter. »Das Dach ist ziemlich baufällig.«
»Wenn das eine Anspielung auf mein Gewicht sein soll«, antwortete Judith, »dann ziehe ich es vor, sie zu überhören.« Sie wedelte ungeduldig mit dem Scheinwerfer, so dass der Strahl Stefans Gesicht endlich losließ.
Im gleichen Moment, in dem er es tat, senkte
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