Nemesis 02 - Geisterstunde
Art, auf die andere vielleicht ein besonders seltenes, aber auch besonders ekelhaftes Insekt angesehen hätten. Eds Grinsen wurde nur noch breiter.
»Was wollt ihr denn?«, fragte er. »Ich spreche doch nur laut aus, was jeder von euch denkt. Wenn Superman es schafft, über die Mauer zu fliegen, prima, dann kommen wir hier raus. Und wenn nicht: auch gut. Einer weniger, mit dem wir uns um das Erbe streiten müssen.«
Niemand antwortete. Selbst Carl hob den Kopf und sah Ed verwirrt und erschrocken an, und ich hatte mit einem Male das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Ich zögerte nur noch einen winzigen Moment, dann fuhr ich auf dem Absatz herum und stürmte aus dem Raum, bevor ich noch etwas Unüberlegtes tun konnte.
Ed den Hals umdrehen, zum Beispiel...
Es hatte aufgehört zu regnen, als ich auf den Hof hinaustrat, aber noch immer bedeckten dichte Wolken den Himmel. Das Kopfsteinpflaster glänzte dunkel vor Nässe, schien aber das ohnehin nur schwache Licht noch zusätzlich zu verschlucken. Es war kühl, doch in diesem Moment empfand ich die klare, frische Nachtluft als Wohltat und atmete ein paarmal hintereinander tief ein und aus.
Der Sauerstoff vertrieb auch noch den Rest meiner Kopfschmerzen, aber es blieb ein sonderbar drückendes Gefühl zurück. Kein Schmerz, aber etwas, was beinahe noch unangenehmer war.
Meine Hände zitterten, als ich die Zigarette an die Lippen hob und einen weiteren tiefen Zug tat. Ich fühlte mich innerlich aufgewühlt und verunsichert und wusste selbst nicht, warum. Schon nach unserem ersten Zusammentreffen in Carls Kneipe war mir klar geworden, dass ich mir nicht unbedingt eine Traumfamilie angelacht hatte, aber was dort drinnen gerade vor ein paar Augenblicken fast passiert wäre, das ging weit über das hinaus, was ich tolerieren konnte. Ich hatte Angst vor mir selbst, und der winzige Teil meines Bewusstseins, der noch zu klarem Denken imstande war, machte mir sehr deutlich, dass ich allen Grund dazu hatte, denn ich hatte keinerlei Widerstand geleistet.
*
Irgendetwas bewegte sich in der Dunkelheit auf der anderen Seite des Hofes. Ich sah genauer hin und erkannte die schlanke, hoch aufgerichtete Gestalt von Stefan, die reglos auf halber Strecke zwischen dem Torturm und mir stand. Nach dem, was gerade passiert war, hatte ich wenig Lust, mit ihm zu reden – genau genommen hatte ich auf keinen meiner lieben Verwandten Lust, noch nicht einmal auf Judith -, aber ich löste mich schließlich doch von meinem Platz und ging langsam die Treppe hinunter und auf ihn zu, wobei ich einen übertrieben großen Bogen um das gähnende Loch im Boden schlug, in dem von Thun verschwunden war. Stefan drehte sich um, als ich näher kam und er meine Schritte hörte.
»Hast du schon etwas gefunden?«, fragte ich.
Stefan schüttelte stumm den Kopf. Er war ja auch selbst erst seit einigen Augenblicken hier draußen, und ich hatte nicht das Gefühl, dass er sich tatsächlich schon nach einer geeigneten Stelle umgesehen hatte, um über die Mauer zu steigen. Ich war mir nicht einmal mehr sicher, dass er wirklich aus diesem Grund hier herausgekommen war.
»Nein«, sagte er nach einer Weile. »Ich bin auch ...« Er hob in einer hilflosen Geste die Schultern, die bei einem Mann seiner Größe und Statur fast komisch wirkte. »Was da drinnen gerade passiert ist«, begann er. »Es ... es tut mir Leid. Ich weiß auch nicht, was in mich gefahren ist.«
»Nicht nur in dich«, antwortete ich.
»Das hätte nicht passieren dürfen«, beharrte er. Obwohl ich ihm direkt gegenüberstand, war das Licht zu schwach, um den Ausdruck auf seinem Gesicht wirklich erkennen zu können, aber seine Stimme klang fast gequält. »Wenn Judith und du mich nicht zurückgehalten hättet ...«
»Dann wäre auch nichts passiert«, fiel ich ihm ins Wort, obwohl ich mir gar nicht so sicher war, dass das auch stimmte. »Immerhin wissen wir jetzt, dass Carl die Wahrheit sagt.«
Wieder schwieg Stefan eine geraume Weile.
»Jetzt mach dich nicht verrückt«, fuhr ich fort. »Uns sind eben allen die Nerven durchgegangen. Ist ja auch ein bisschen viel passiert, für einen einzigen Abend, findest du nicht?«
»Darum geht es nicht«, erwiderte Stefan kopfschüttelnd. »Für einen Moment ...« Er atmete hörbar ein, als fiele es ihm unendlich schwer, weiterzusprechen. »Weißt du, ich wollte es wirklich tun. Es hätte nicht viel gefehlt und ich hätte ihm wirklich den Finger abgeschnitten.« Er trat gegen einen Stein, der
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