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Nemesis 02 - Geisterstunde

Nemesis 02 - Geisterstunde

Titel: Nemesis 02 - Geisterstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
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lautstark davonschlitterte und irgendwo in der Dunkelheit gegen ein Hindernis prallte.
    Das Geräusch klang wie ein Pistolenschuss in der Stille, die sich über den Hof gelegt hatte. »Diese verdammte Bruchbude bringt uns noch alle um den Verstand.«
    »Ich weiß, was du meinst«, sagte ich. »Mir ist es genauso gegangen. Vergiss es. Wir haben uns heute Abend alle nicht gerade mit Ruhm bekleckert.«
    Stefan schüttelte stur den Kopf. »Dieser Carl ist ein verlogener Mistkerl, aber das gibt uns noch lange nicht das Recht, so mit ihm umzuspringen«, beharrte er.
    »Und deshalb willst du jetzt Kopf und Kragen riskieren, um über die Mauer zu klettern?«, fragte eine Stimme hinter mir. »Du musst dir nichts beweisen, Stefan. Und uns erst recht nicht.«
    Stefan sah auf und auch ich drehte mich erschrocken herum. Ich hatte nicht einmal bemerkt, dass Judith ebenfalls aus dem Haus gekommen und hinter mich getreten war. »Frank hat Recht, weißt du? Es ist schon genug passiert für einen Tag.«
    Stefan schwieg ein paar Sekunden lang, dann zuckte er die Achseln. »Wir können nicht einfach abwarten, bis jemand kommt, um nach uns zu suchen«, antwortete er schließlich. Es klang nach dem, was es war: eine nicht besonders überzeugende Ausrede. »Außerdem könnte von Thun noch am Leben sein. Wie würdet ihr euch fühlen, wenn sie ihn finden und sich herausstellt, dass er gestorben ist, während wir hier oben gesessen und Däumchen gedreht haben?«
    »Nicht besonders gut«, gestand Judith. Sie rückte näher an mich heran und lehnte sich gegen meine Schulter.
    Automatisch setzte ich dazu an, ihr den Arm um die Schulter zu legen, aber irgendetwas hielt mich dann doch davon ab.
    »Warte wenigstens bis morgen früh, bis es hell ist«, sagte Judith, aber irgendwie klang sie resigniert. Wahrscheinlich spürte sie, dass Stefan seine Entscheidung längst getroffen hatte und nichts, was einer von uns sagen würde, ihn noch zurückhalten konnte. Vielleicht war es wirklich sein schlechtes Gewissen, das ihn dazu trieb, dieses Risiko einzugehen, aber davon einmal ganz abgesehen – er hatte Recht. Vielleicht lebte der alte Mann ja noch. Wir konnten nicht einfach abwarten, bis ein Wunder geschah und jemand kam.
    »Wie du willst«, seufzte sie schließlich. »Aber warte noch einen Moment. Ich bin gleich wieder da.«
    Und damit wandte sie sich um und ging mit schnellen Schritten zum Haus zurück. Ich sah ihr nach, bis sie in der Dunkelheit verschwunden war, aber ich bedauerte fast augenblicklich, es getan zu haben. Natürlich war es nur eine optische Täuschung, ein perfektes Zusammenspiel der Lichtverhältnisse mit meiner eigenen überreizten Phantasie, und doch: Für einen winzigen Moment schien sich ihre Gestalt zu verändern, ihre Umrisse zerflossen, ordneten sich neu zu etwas, was nicht mehr ganz menschlich zu sein schien, sondern größer, bizarrer war und einen Umhang wie ledrige schwarze Schwingen trug.
    Hastig verscheuchte ich den Gedanken und drehte mich mit einem Ruck wieder zu Stefan um.
    »Hast du schon eine passende Stelle gefunden?«, fragte ich.
    Stefan schüttelte den Kopf. »Ich habe noch gar nicht danach gesucht«, gestand er, doch bereits während er das sagte, drehte er sich herum und ging mit langsamen Schritten los. Ich folgte ihm. »Viele kommen sowieso nicht in Frage«, fuhr er fort. Sein Blick glitt prüfend über das uralte Mauerwerk ringsum. »Das Problem sind die Felsen auf der anderen Seite. Geht ziemlich steil runter.«
    Ich maß ihn mit einem kurzen, überraschten Blick.
    Offensichtlich hatte sich Stefan das Gebäude auf dem Weg hier herauf gründlicher angesehen als wir alle. Ich selbst erinnerte mich nur vage an steil aufsteigende kantige Felsen und schwarzes Mauerwerk.
    »Versuchen wir es dort drüben«, sagte er, während er auf einen baufälligen Schuppen mit flachem Dach deutete, der unweit des Tores wie ein geducktes, Schutz suchendes Tier an der Mauer lehnte. Ich hatte nichts dagegen einzuwenden, aber wieso sagte er eigentlich dauernd wir?
    Während wir auf den Verschlag zugingen, musterte ich ihn genauer, und das wenige, was ich in der Dunkelheit erkennen konnte, gefiel mir ganz und gar nicht. Seine Wände bestanden aus dem gleichen brüchig aussehenden Stein, aus dem die ganze Burg erbaut war, doch der Schuppen selbst befand sich in noch viel schlechterem Zustand als der Rest dieser Ruine. Eigentlich sah er aus, als könnte ihn der erste heftige Luftzug wie ein Kartenhaus zusammenstürzen lassen.

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