Nemesis 02 - Geisterstunde
Stefan den Arm und atmete leise, aber hörbar auf; als hätte ihn der Lichtstrahl gebannt.
»Warte«, rief er. »Ich komme.«
Er ging halb in die Knie, um auf das anderthalb Meter tiefer liegende Schuppendach hinabzuspringen, hielt dann jedoch noch einmal mitten in der Bewegung inne und sah zu mir hoch. »Was ich dir gerade erzählt habe
...«, begann er.
»... bleibt unter uns«, führte ich den Satz zu Ende.
»Keine Sorge.«
Stefan nickte knapp, sprang auf das Schuppendach hinunter und balancierte so elegant wie eine Ballerina über die morschen Balken. Einen Moment später warf ihm Judith die Lampe zu. Er fing sie geschickt auf, schob sie, ohne sie auszuschalten, unter seinen Gürtel und beugte sich dann vor, um auch ihr aufs Dach zu helfen.
Trotz ihrer überzähligen Pfunde zog sie sich ohne größere Mühe hinauf; nicht ganz so elegant wie Stefan vorhin, aber doch wesentlich müheloser und trotz ihres Ungeschicks irgendwie anmutiger als ich. Nur einen Augenblick später kletterten die beiden, nebeneinander und (wie ich nicht ohne Neid registrierte) ohne dass Judith Stefans Hilfe in Anspruch genommen hätte, auf den Wehrgang hinauf.
Stefan zog die Lampe unter seinem Gürtel hervor und trat wieder an die Mauer heran. Judith atmete tief durch, drehte sich dann einmal um sich selbst und warf einen langen, forschenden Blick über den Hof.
»Unheimlich«, murmelte sie.
Ich konnte nicht widersprechen. Unheimlich war vielleicht noch die harmloseste Bezeichnung, die mir für diese halb verfallene, uralte Ruine einfiel. Vielleicht tat ich ihr unrecht. Nach dem, was wir gerade erlebt hatten, wäre mir vermutlich jeder Ort unheimlich, zumindest unangenehm, vorgekommen. Die Kälte und die nahezu vollkommene Finsternis taten ein Übriges, um dem ehemaligen Kloster nicht unbedingt den Charme von Disney World zu verleihen. Dennoch fiel es mir immer schwerer, mir vorzustellen, dass hier einmal Kinder gelebt haben sollten. Was hatte Maria erzählt? Im Dritten Reich war dies ein Kinder- und Erholungsheim für werdende Mütter gewesen? Wenn das stimmte, wunderte es mich noch weniger, dass das Dritte Reich untergegangen war.
Ohne irgendetwas von dem auszusprechen, was ich empfand, ging ich zu Stefan hinüber. Er hatte sich mittlerweile weit nach vorne gebeugt und ließ den Strahl der starken Taschenlampe senkrecht in die Tiefe fallen. Das weiße Licht stanzte einen lang gestreckten Keil aus fast schon unangenehmer Helligkeit aus der Nacht und beleuchtete nicht nur die Mauer, sondern auch die Felsen sowie uraltes, verwittertes Wurzelwerk und abgestorbene Bäume auf der Steilwand darunter. Ein unangenehmes Gefühl ergriff von meinem Magen Besitz, als ich sah, wie tief der Boden auf der anderen Seite der Burgmauern unter uns lag. Auf dieser Seite mochte sie keine fünf Meter hoch sein, genau, wie Stefan gesagt hatte; auf der anderen Seite maß sie mindestens das Doppelte, und der gewachsene Fels, der sich darunter anschloss, fiel nicht wirklich weniger steil ab.
»Ziemlich tief«, murmelte Judith, nachdem sie ebenfalls an die Mauer herangetreten war und sich schaudernd nach vorne gebeugt hatte. Die Gänsehaut auf ihren Unterarmen kam offensichtlich nicht allein von der eiskalten Nachtluft. »Bist du sicher, dass du wirklich da runterklettern willst? Du wirst dir sämtliche Knochen brechen.«
»Kaum«, widersprach Stefan. »Ich bin zwar nicht Spiderman, aber ich habe schon schwierigere Wände gemacht. Das ist höchstens eine Fünf plus.«
»Fünf plus?«
Stefan richtete sich wieder auf und revanchierte sich bei Judith, indem er den Lichtstrahl einen Moment lang direkt auf ihr Gesicht richtete. Dass er mich dabei auch erwischte und ich für einen Augenblick blind war und danach nur blitzende Sterne sah, schien er billigend in Kauf zu nehmen.
»Das ist der Schwierigkeitsgrad, nach dem Kletterer ihre Hindernisse bewerten«, sagte Judith.
Stefan nickte anerkennend. »Und diese Mauer ist wirklich nicht allzu schwer. So manche Übungswand ist schwieriger«, fügte er hinzu.
Wahrscheinlich hat er Recht, dachte ich. Ich verstand nicht besonders viel vom Klettern, aber selbst meinem unkundigen Blick war der Zustand nicht entgangen, in dem sich die Burgmauern befanden. Zwischen den verwitterten Steinen gähnten Risse und Spalten, an denen vermutlich sogar ich hätte hinunterklettern können.
Trotzdem sagte ich: »Übungswände sind aber im Allgemeinen nicht klatschnass. Ich bin nicht einmal sicher, dass dieser uralte Krempel
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