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Nemesis 02 - Geisterstunde

Nemesis 02 - Geisterstunde

Titel: Nemesis 02 - Geisterstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
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nachlassendes Stechen mein Haupt. Ich stöhnte gequält auf.
    Trotz der Schmerzen nahm ich ein seltsames, unangenehmes Kribbeln im Bauch wahr, das sich mit jeder zurückgelegten Stufe verstärkte, bis ich mich ein wenig fühlte, als hätte ich die Box einer Stereoanlage verschluckt, aus der nun ein tiefer, dunkler Bass erklang, der meine Gedärme vibrieren ließ.
    Wir durften das Ende der Treppe nicht erreichen. Ich hatte keine Ahnung, was uns dort oben erwartete, aber mit einem Male wusste ich mit unerschütterlicher Sicherheit, dass es ganz und gar nichts Gutes war, dass wir geradewegs in unser Unheil stürmten. Miriam hatte Recht. Wir durften nicht weiterlaufen.
    Aber wir hatten keine Wahl. Die grausamen Stimmen der Kinder und das unerträgliche Getrappel ihrer Schritte kamen immer näher. Es war unmöglich, dass ein Mob dieses Ausmaßes die Stufen schneller zurücklegte als wir beide, denn die Kinder mussten sich gegenseitig am Vorwärtskommen hindern, einander in ihrer Eile schubsen und drängeln, bis das eine oder andere zu Fall kam und wiederum andere mit sich riss. Sie mussten einander eher behindern, als dass sie sich nutzten.
    Dennoch holten sie zu uns auf, daran bestand kein Zweifel. Mein Magen verkrampfte sich schmerzhaft zu einem steinharten Klumpen. Meine Finger umklammerten Miriams Handgelenk noch entschlossener, noch fester, so dass sich meine Fingernägel einige Millimeter in ihre dünne, samtweiche Haut gruben. Ich rannte, so schnell ich nur konnte.
    Was auch immer dort oben auf uns wartete, konnte nicht grausamer sein als das, was geschah, wenn der Mob uns einholte.
    Sie würden uns in Stücke reißen.
    Als ich wieder zu mir kam, waren meine Kopfschmerzen verschwunden, oder zumindest auf ein Niveau gesunken, auf dem ich nicht mehr gezwungen war, ihnen Beachtung zu schenken. Aber meine Kleider klebten schweißnass und kalt auf meiner fiebrig-heißen Haut, und mein Herz raste, als hätte ich gerade einen Hundertmeterlauf zurückgelegt – oder zumindest einen Sprint durch einen in schier unendliche Höhe ragenden Turm.
    Wie war ich hierher gekommen? Ich meine nicht in den Raum – meine Erinnerungen waren, wie ich schnell feststellte, vollständig erhalten geblieben. Meine Trennung von Judith und Carl unten im Hof, der Weg nach oben, die hämmernden Kopfschmerzen, das geheime Fach im Schreibtisch, die Fotos und sogar der Moment, in dem die Ohnmacht meinen Willen besiegt hatte – ich konnte mich lückenlos an jeden Schritt, den ich zwischen Küche und Rektorzimmer zurückgelegt hatte, erinnern.
    Ich war mir hundertprozentig sicher, dass ich in dem ledernen Sessel gesessen und die Bilder betrachtet hatte, als ich das Bewusstsein verlor. Wäre ich gefallen, läge ich der Länge nach unter dem Tisch, aber so war es nicht: Ich kauerte in sitzender Haltung mit dem Rücken zum Schreibtisch. Meine Hände waren leer, Feuerzeug und Fotos waren verschwunden.
    Mein Blick wanderte irritiert über den staubigen Boden, aber da war nichts. Wäre ich gefallen und hätte ich mich im Schlaf irgendwie in diese aufrechte Position gebracht, müssten die Bilder doch in meiner unmittelbaren Nähe verstreut liegen ...
    Ein kalter Schauer rann mir den Rücken hinab und ließ mich frösteln. Jemand musste hier gewesen sein, als ich ohne Bewusstsein war. Vielleicht war derjenige noch immer im Raum?
    Ich sprang auf die Füße und sah mich hektisch um.
    Mein Herzschlag, der sich gerade erst und auch kaum nennenswert beruhigt hatte, beschleunigte sich erneut.
    Wieder überkam mich Schwindel, aber dieses Mal wollte er mich nur darauf hinweisen, dass es dem Kreislauf nicht gut tat, so schnell aufzustehen. Ich kämpfte ihn nieder und spannte alle Muskeln an. Mein Blick drang im silbrigen Mondschein durch das winzige Fenster in den Raum ein, tastete durch das Zimmer und über das Mobiliar. Aber ich war allein. Mein Feuerzeug befand sich auf dem Schreibtisch – gleich neben den Fotos, die sorgsam und in akribischen Abständen aufgereiht auf der dunklen, an den Seiten mit Schnitzereien verzierten Mahagoniplatte lagen.
    Erschrocken und mit angehaltenem Atem starrte ich auf die Tischplatte hinab. Wer war das gewesen? Und was sollte das? Mit zitternden Fingern griff ich nach dem Feuerzeug. Beim vierten oder fünften hektischen Versuch gelang es mir schließlich, es zu entzünden. Im flackernden Schein der Flamme betrachtete ich die Bilder, die ich vorhin nur durch einen Tränenschleier hindurch und mit dröhnendem Schädel überflogen

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