Nemesis 02 - Geisterstunde
um eine so desinteressierte Miene, dass ihm die Neugier schon wieder deutlich ins Gesicht geschrieben stand.
»Demnach müssten die Bilder schon ziemlich lange da drüben gelegen haben.« Judith drehte eines der Klassenfotos um und suchte auf der Rückseite nach einem Datum, fand aber nur einen ziemlich verblassten Stempel, den sie ins Licht hielt, um ihn entziffern zu können.
»Fotolabor C. Taube«, las sie schließlich vor und sah Carl stirnrunzelnd an. »Noch ein Zufall, nicht wahr? Zur Taube ist nicht wirklich der Name Ihrer Gaststätte. Wir alle haben dummerweise das kleine r hinter dem T übersehen. Tatsächlich ist es die Traube. Und Ihr Vorname schreibt sich wahrscheinlich mit einem doppelten K am Anfang.«
»Nein«, antwortete Carl trotzig. »Das ist kein Zufall.
Dieses Fotolabor gehörte zu seinen Lebzeiten meinem Onkel. Es war übrigens das einzige im Umkreis von gut dreißig Kilometern Luftlinie. Wahrscheinlich sind alle Fotos, die in diesem Kaff jemals geschossen worden sind, in seinem Labor entwickelt worden.«
Judith legte das Klassenfoto beiseite und konzentrierte ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Pfadfinderbild. Nun, da das Licht besser war und meine Kopfschmerzen verschwunden waren, bemerkte ich immer mehr Details auf dem verblassten Papier. Eines davon waren die beiden Fahrzeuge, die zwischen den Schülern in Pfadfinderuniformen mit diesen albernen Halstüchern sowie deren ebenfalls in lächerlichen Uniformen steckenden Betreuern und dem Waldlokal zu erkennen waren: ein Lkw mit graublau gestrichener rundlicher Schnauze, wie man sie aus alten Schwarzweißfilmen kannte, und ein kleinerer Oldtimer. Judith deutete nacheinander mit dem Zeigefinger auf beide.
»Von Lkws verstehe ich nichts«, sagte sie und deutete auf den Oldie mit der ungewöhnlichen eiförmigen Karosserie. »Aber das da ist eine BMW Isetta. Die kam erst 1953 auf den Markt. Dieses Foto muss also irgendwann zwischen 53 und Mitte der siebziger Jahre entstanden sein. Jedenfalls stammt es nicht aus der Zeit des Dritten Reiches.«
Maria nickte bestätigend. Sie schien ein wenig in ihrer Dozentinnenehre verletzt, da sie diese Feststellung nicht vor Judith gemacht und (wahrscheinlich innerhalb eines halbstündigen Vortrages) den anderen vermittelt hatte.
»Was ist Lebensborn?«, wollte Judith wissen, und Marias Augen nahmen einen regelrecht erleichterten Glanz an. Nicht nur ich bedachte Judith mit einem fast erschrockenen Blick. Niemand von uns legte großen Wert auf all die Informationen, die irgendwann im Geschichtsunterricht oder auf einem Doku-Sender an uns vorbeigelaufen waren – und schon gar nicht in aller Ausführlichkeit und aus Marias Mund. Aber es war zu spät. Judith hatte den Stein ins Rollen gebracht, und ich wusste, dass ich schon einmal eine halbwegs bequeme, sitzende Position einnehmen konnte, noch ehe Maria Luft geholt hatte, um zu antworten. Ich ließ mich seufzend auf einen der Plastikstühle neben Ed sinken.
»Zeit für ein paar vertrauliche Worte unter Männern?«, zischte Ed mir in verschwörerischem Tonfall ins Ohr. Ich blickte ihn stirnrunzelnd an.
»Das kommt darauf an, wen du fragst«, ging Maria auf Judiths Frage ein. »Viele Unterlagen zum Lebensborn sind vernichtet, und die Meinungen darüber, was die Ziele dieser Vereinigung waren, gehen auseinander.«
»Was hältst du davon, wenn wir zwei freiwillig auf die paar Kröten aus dieser Erbschaft verzichten?«, flüsterte Ed und grinste.
»Häh?«, machte ich verständnislos. Ich hatte keinen blassen Schimmer, worauf er hinauswollte. Überhaupt hatte ich im Laufe der letzten Stunden äußerst wenige Gedanken an diese bescheuerte Erbschaft verschwendet, die mir ohnehin nur winkte, wenn ich schleunigst ein Kind mit der pummeligen Judith zeugte, sie heiratete und zumindest die nächsten achtzehn Jahre damit zubringen wollte, in einem knallroten Ferrari von Kinderarzt zu Elternsprechtag zu rasen und mir von Judith (ich war sicher, sie würde eine gute Mutter sein) aus Erziehungsratgebern vorlesen zu lassen. Wenn dieses Erbe denn überhaupt existierte.
»Wir sollten uns Carl anschließen und mit ihm nach dem Gold suchen. Oder besser: ohne ihn, und ohne die anderen«, flüsterte Ed in beschwörendem Tonfall und klopfte mir kumpelhaft auf die Schulter. »Aber nur wir zwei, verstehst du. Zwei Hälften sind mehr als zwei Sechstel.« Er lächelte selbstzufrieden über diese großartige Erkenntnis. Ich zog die Stirn kraus und überlegte, ob ich seine Worte nun
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