Nemesis 02 - Geisterstunde
und zu hoffen, dass morgen früh tatsächlich jemand hierher kommt, um nach uns zu sehen«, erklärte Maria schulterzuckend.
»Oder nach denen, die bis dahin noch am Leben sind«, fügte Judith bitter hinzu. Ich schenkte ihr einen fragenden Blick. Sie nickte knapp in Eds Richtung. »Ed«, erklärte sie. »Außerdem Stefan, nicht zu vergessen von Thun, der da draußen irgendwo in diesem Schacht festsitzt. Und wer weiß, was sonst noch alles passiert.« Sie sah fröstelnd an mir vorbei auf den Flur hinaus.
»Wie meinst du das?«
Judith hob zögernd die Schultern. »Glaubt ihr etwa noch, dass das alles nur Zufall ist? Ich meine: Erst die Sache mit dem Rechtsanwalt, von Thuns Sturz, das Gitter, das euch beide fast das Leben gekostet hätte, die Sache mit Stefan ...« Sie schüttelte hilflos den Kopf. »Ich kann nicht glauben, dass auf einmal ganz zufällig dermaßen viel Unglück über jemanden hereinbrechen kann, versteht ihr?«
»Selbstverständlich verstehen wir das, Schätzchen.«
Ellen zog eine verächtliche Grimasse. »Irgendjemand hat diesem Anwalt heimlich so viele Amphetamine in den Kaffee geschüttet, dass er einen Hirnschlag erlitten hat, und dir dann eine Fledermaus auf den Hals gehetzt, die darauf dressiert war, hysterische junge Frauen aus dem Haus zu jagen, während er selbst auf der Lauer lag, um die Bodenklappe rechtzeitig zu entfernen, damit auch garantiert jemand stürzt. Und schließlich hat er Stefan ein bisschen Verwesungskonzentrat in die Socken geschüttet und seine als Fledermäuse verkleideten Hausgeier auf ihn losgelassen.« Sie machte eine Geste mit der Linken, die Judith wissen ließ, dass sie ihrer Meinung nach nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte. »Zufall? Ganz sicher nicht. Wir können doch alle eins und eins zusammenzählen, oder?«
Judith funkelte sie zornig an. »So ähnlich«, gab sie ruppig zurück. »Von mir aus glaub aber weiter an deine Schicksalsschläge. Hoffentlich treffen sie dich als Nächste.«
»Ich habe etwas gefunden«, fiel ich in den sich anbahnenden Streit ein, ehe er wieder ausarten konnte und es womöglich noch mehr Verletzte gab, und zog die Fotos aus der Hosentasche, die ich aus dem Lehrerhaus mitgebracht hatte. »Es hilft uns vielleicht nicht, hier herauszukommen, aber vielleicht interessiert es ja trotzdem jemanden.«
»Was ist das?« Maria trat zu mir und blickte neugierig über meine Schulter. Sie schien erleichtert über meinen Themenwechsel.
»Ist euch eigentlich schon aufgefallen, dass bislang nur Männer verunglückt sind?«, philosophierte sie unbeirrt weiter, aber niemand ging darauf ein.
Selbst Ellen seufzte nur genervt auf, stand auf und nahm mir die Bilder aus der Hand, um sie auf dem Küchentisch auszubreiten. »Kinderfotos. Sehr schön«, stöhnte sie. »Was ist daran so interessant?«
»Sie sind in dieser Schule aufgenommen worden«, antwortete ich schulterzuckend. »Und ich habe sie in einem Geheimfach gefunden. Oben im Direktorzimmer.
Ich dachte, dass Dinge, die in Geheimfächern versteckt sind, die nur über verborgene Hebel zu öffnen sind, vielleicht wichtig sein könnten.« Eine Erwähnung des Blackouts, den ich im Lehrerhaus erlitten hatte, und die Tatsache, dass die Kringel auf einem der Gruppenfotos zu Anfang auf dem vergilbten Fotopapier noch nicht zu sehen gewesen waren, ersparte ich mir. Wer hätte mir schon geglaubt? Ich jedenfalls nicht, wenn ich in der Haut eines anderen gesteckt hätte.
Ellen setzte zu einer schnippischen Antwort an, aber in dieser Sekunde drängte sich Maria in unsere Mitte und hob beschwichtigend die Hände. »Ich für meinen Teil finde sie schon ziemlich interessant«, fiel sie ruhig ein und deutete auf den sechsstrahligen Stern, bestehend aus drei schwarzen Balken auf der Flagge, die der Pfadfindertrupp auf dem Foto schwenkte. Erst jetzt im grellen Neonlicht der Internatsküche bemerkte ich seine außergewöhnlichen Merkmale. Er hatte keine spitzen Strahlen.
Ich hatte noch nie einen Stern mit abgerundeten Spitzen gesehen. »Lebensborn. Das ist die Rune des Lebensborns. Eigentlich ist es ein nordisches Symbol, aber die Nazis haben es für sich in Anspruch genommen.«
Aus den Augenwinkeln bemerkte ich, wie auch Carl einen Schritt näher zu uns herantrat und einen Blick auf die Bilder zu erhaschen versuchte. Lebensborn und Drittes Reich, das waren wahrscheinlich Signalwörter, die auf der Suche nach seinem Nazischatz alle Alarmglocken hinter seiner Stirn im Sturm klingeln ließen. Er bemühte sich
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