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Nemesis 02 - Geisterstunde

Nemesis 02 - Geisterstunde

Titel: Nemesis 02 - Geisterstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
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hinausführten. Sie nahmen einfach keinerlei Rücksicht auf meine mittlerweile butterweichen Knie, auf das schmerzhafte Rasen meines Herzens und vor allem auf den längst rasenden Schmerz in meinem Kopf, der schon jetzt alle Migräne-Anfälle, die ich auf meinem langjährigen Leidensweg kennen gelernt hatte, übertraf und sich nichtsdestotrotz im Stakkato meines Pulsschlages in winzig kleinen Schritten zwar, aber unweigerlich ins absolut Unerträgliche steigerte. Ich schmeckte bittere Galle auf meiner Zunge und kämpfte mühsam gegen den Schwindel an, während ich die Tür aufschob.
    Genau wie der Eingang im Erdgeschoss, war auch diese Tür nur angelehnt. Anders als diese quietschte sie aber keineswegs, sondern schwang nahezu von allein auf, als ich sie mit der flachen Hand berührte, und gab den Blick frei in ein Zimmer – das ich nur zu gut kannte.
    Ich war niemals hier gewesen, um mir vielleicht Schelte für heimliches Rauchen in einer vermeintlich unbeobachteten Ecke, für das Pfuschen in der Englischarbeit, das Abschneiden von allzu verlockenden langen Zöpfen mit der Papierschere oder für das Spucken von durchgenuckelten Papierkügelchen abzuholen. Abgesehen davon, dass die allermeisten dieser Dinge ohnehin nie auf mich zugetroffen hätten (abgesehen von der Sache mit den Klassenarbeiten – ich glaube nicht, dass ich ein dummer Schüler war, aber hin und wieder war ich eben etwas bequem), sondern eher auf einen beachtlichen Teil meiner Mitschüler, hatte ich dieses Internat nie besucht.
    Ich war nie in diesem Rektorzimmer gewesen. Trotzdem wusste ich mit absoluter Sicherheit, dass es genau dieses war, das ich im flackernden Licht des Feuerzeuges, das mir langsam, aber sicher den Daumen der rechten Hand verkohlte, und durch einen Schleier von Tränen, die der unerträgliche Schmerz in meinem Kopf mir in die Augen getrieben hatte, erspähte. Der Raum war groß – überraschend groß eigentlich, selbst für ein Rektorzimmer.
    Ich war sicher, dass er mindestens die halbe Etage für sich allein beanspruchte, und wäre wahrscheinlich erstaunt gewesen, wäre er mir nicht so unglaublich vertraut vorgekommen und wäre der Schmerz hinter meiner Stirn, in meinem Hinterkopf und sogar in meinem Nacken nicht ganz so grausam gewesen. So aber nahm ich das, was ich durch den Tränenschleier hindurch erkennen konnte, eher sachlich als tatsächlich interessiert oder gar neugierig zur Kenntnis und konnte mir längst nicht mehr erklären, warum ich eigentlich hier war. Das hatte ich mir ohnehin eigentlich nie richtig erklären können.
    Der Raum war mit bis zur Decke reichenden dunklen Massivholzregalen eingerichtet, die mittlerweile vollkommen leer vor sich hin staubten und kaum mehr als ein Dutzend Spinnen (Spinnen! Es wurde wirklich Zeit für mich zu gehen!) beherbergten. Dennoch konnte ich die Unmengen von dicken, in Leder gebundenen Büchern und Aktenordnern, mit denen dieses Zimmer einmal nur so voll gestopft gewesen sein musste, lebhaft vor meinem inneren Auge sehen. Dazu gab es einen einzigen, ebenfalls leeren Schrank, dessen Scharniere der Last der Jahrzehnte längst nachgegeben hatten und die Türen nicht mehr zu tragen vermochten, so dass sie schräg nach innen weggekippt waren und wahrscheinlich nur eines einzigen Lufthauchs bedurften, um endgültig auf den dunklen Bodendielen zu landen. Auch ein Bett ohne Rost und Matratze, ein wuchtiger Schreibtisch und ein ebenfalls staubiger, von der Feuchtigkeit der Luft, die durch das glaslose Fenster eindrang, rissig und spröde gewordener Ledersessel gehörten zum Mobiliar. Obwohl der Raum offenbar seit Jahrzehnten nicht mehr genutzt worden war, schimmerte die Pracht längst vergangener Zeiten unverkennbar durch die nahezu zentimeterdicke Staubschicht hindurch. Mahagoni. Alles hier war aus Mahagoniholz gefertigt, mit Schnitzereien versehen und ein kleines bisschen größer, dicker und stabiler als tatsächlich nötig. Im Grunde genommen betrat ich eine Luxus-Ausgabe der Schülerzimmer, die von Thun uns für die Nacht zur Verfügung gestellt hatte.
    Besonders der Schreibtisch in der Mitte des Raumes musste jeden Antiquitätenhändler, selbst so, wie er dastand, also halb verborgen unter einer Masse von Staubweben, aus denen man sich mit etwas Geschick vielleicht schon einen kleinen Kelim weben konnte, an die Schwelle zum Orgasmus treiben. Er war noch immer ein Traum aus Mahagoni, mit liebevollen Schnitzereien, vergoldeten Schmuckleisten und reich verzierten, filigran

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