Nemesis 03 - Alptraumzeit
früh gestorben. Ich bin von einem Internat ins nächste gereicht worden und in den Ferien war ich immer bei ihm. Kein anderer Mensch war so gut zu mir wie er.«
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Ed mir beinahe Leid getan, obwohl ich ihn von allen Mitgliedern meiner neuen Verwandtschaft am wenigstens hatte ausstehen können. Doch in den vergangenen Minuten hatte Maria intensiv darauf hingearbeitet, seinen Platz an erster Stelle auf meiner Hassliste für sich zu erobern; mit seinem Gefühlsausbruch gab Ed ihn endgültig für sie frei.
Ich verstand, was er meinte – besser, als mir lieb gewesen wäre. Ich hatte mir angewöhnt, nie weiter als bis zu meinem achtzehnten Lebensjahr zurückzudenken, wenn ich über mich selbst nachdachte oder redete. Auch meine Eltern waren gestorben, als ich noch klein gewesen war, und genau wie Ed war auch ich von Internat zu Internat gereicht worden. Aber ich hatte keine Verwandten, die sich wenigstens ein bisschen um mich hätten kümmern können. Ich war mit meinem Kinderkoffer und meiner Schultasche von einer Schule zur nächsten gezogen und hatte immerfort das erniedrigende Gefühl mit mir herumgeschleppt, von niemandem gewollt zu werden und zu nichts anderem zu gebrauchen zu sein, als ein paar Lehrer und einen Vormund zu beschäftigen, den ich nie persönlich kennen gelernt hatte. Seine Bestimmung bestand wohl ausschließlich darin, mich auf Distanz zu halten und dabei das kümmerliche Erbe durchzubringen, das meine Eltern mir hinterlassen hatten. Als ich mein Abitur in der Tasche hatte, war von dem Geld nichts mehr übrig.
Ich verstand nicht nur, wie Ed sich fühlte, ich konnte es sogar anhand meiner eigenen Lebenserfahrung nachvollziehen. Ich hätte in meiner Kindheit dringend jemanden gebraucht, den ich in den Ferien besuchen konnte und der für mich da war. Ganz egal, in welcher Uniform dieser Jemand irgendwann einmal gesteckt haben mochte. Ed tat mir Leid. Ich begann ihn mit anderen Augen zu sehen als bisher.
»Dein Großvater gehörte zum Amt A in der Dienststelle Persönlicher Stab Reichsführer SS.« Maria gab nicht auf. Ihr Tonfall war der des ultimativen Vorwurfs.
Ich konnte sie nicht mehr ertragen.
»Willst du nicht gleich chinesisch mit uns reden, Klugscheißerin?«, entfuhr es mir wütend. Meine Finger tasteten nach dem Innenfutter meiner Jeanstaschen und krallten sich darin zu geballten Fäusten fest. Alle Muskeln in meinem Körper spannten sich. Wenn ich mich nicht in Acht nahm, würde ich etwas tun, was ich noch nie in meinem Leben getan hatte, und eine Frau schlagen, was ich mir wahrscheinlich nie verzeihen würde. »Was soll das bedeuten?«, schnaubte ich.
Maria verdrehte seufzend die Augen, um mich endgültig und zweifelsfrei von meiner peinlichen Unwissenheit zu überzeugen. Aber ich schämte mich nicht wegen meiner vermeintlichen Bildungslücke (es gab sicherlich spannendere Themen, mit denen ich mein Potential ausschöpfen könnte) und so überzeugte sie mich lediglich von der Grenzenlosigkeit ihrer Arroganz.
»Im Amt A ist 1942 die Studiengesellscbaft für Geistesgeschichte Deutsches Ahnenerbe aufgegangen. Diese Studiengesellschaft hat alle möglichen Forschungsprojekte gefördert. Angefangen von irgendwelchen verrückten Esoterikern, die dem Ring der Nibelungen nachspüren wollten, bis hin zu verbrecherischen Ärzten wie Sigmund Rascher, die in den Konzentrationslagern Menschenversuche durchgeführt haben.« Sie deutete erneut auf das Buch, das sie noch immer wie eine Trophäe vor sich herhielt. »Hier drinnen gibt es eine ganze Seite über Sturmbannführer Richard Krause. Allerdings steht da nur, dass er die eroberten Ostgebiete im Dienste des Amtes A bereist hat. Was, glaubst du, hat er da gemacht, Ed?«
»Mein Großvater war kein Verbrecher«, beharrte Ed kraftlos, aber stur. Die Erinnerungen an seine Kindheit und Marias Angriff auf den einzigen Menschen, den er in seinem Leben geliebt hatte, hatten nichts als ein jämmerliches Häufchen Elend zurückgelassen.
Maria genoss ihre Überlegenheit. Sie war wie ein Hooligan, der mit Springerstiefeln nach einem am Boden Liegenden trat. »Natürlich nicht«, sagte sie gehässig. »Er war bestimmt ein netter Kerl, der im Dienste der Völkerverständigung als SS-Offizier herumreiste.«
Meine Kopfschmerzen waren für die Dauer einiger Minuten konstant auf einem nervigen, aber noch erträglichen Niveau geblieben. Nun aber spürte ich, wie ein weiterer schmerzhafter Blitz seine Reise von den Schläfen aus durch
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