Nemesis 03 - Alptraumzeit
Schreibtisch folgte und ihr nun doch das Tranchiermesser reichte, damit sie die reich verzierten, massiven Schubfächer damit aufhebeln konnte. Anscheinend hatte Judith ebenfalls Kopfschmerzen.
Was zum Teufel war hier los? Was geschah hier mit uns?
Wieder spürte ich Übelkeit und Schwindel in mir aufsteigen, obwohl der migräneartige Schmerz das Niveau, das mich bei meinem ersten Ausflug hierher hatte zusammenbrechen lassen, noch längst nicht erreicht hatte. Ich lehnte mich an den Türrahmen und beobachtete Ellen dabei, wie sie eine Schublade nach der anderen aufbrach, ohne dabei aber auf etwas zu stoßen, was ihrem Entdeckerdrang Befriedigung verschaffte.
»Klassenbücher«, stellte sie enttäuscht fest und reichte einen Stapel blauer Pappmappen an Maria weiter, die im Gegensatz zu ihr deutlich interessiert an den Heften schien, denn sie legte sie auf der Tischplatte ab und begann neugierig eines nach dem anderen durchzublättern. »Anscheinend das vollständige Sortiment von 1950 bis 1985. Unser großer Gönner nahm es wohl nicht nur mit der Haarfarbe seiner Internatszöglinge etwas zu genau. Soweit ich weiß, bewahrt man so einen Quatsch nicht länger als zehn Jahre auf.«
Sie wandte sich der letzten Schublade in der Mitte des alten Mahagonitisches zu, schob das stählerne Tranchiermesser in die schmale Fuge zwischen Fach und Platte und brach auch dieses Schloss mit einer Leichtigkeit auf, die mich für einen Augenblick daran zweifeln ließ, ob sich sämtliche Operationen, die sie in ihrem Leben durchgeführt hatte, wirklich auf solche am menschlichen Körper beschränkt hatten. Vielleicht hatte es ja einmal eine Zeit gegeben, in der sie eine sicher von nicht weniger Erfolg gekrönte Karriere als Gangsterbraut angestrebt hatte. Jedenfalls dauerte es, wie zuvor auch bei den Fächern zu ihrer Rechten und Linken, keine drei Sekunden, ehe das Schloss mit einem metallischen Klicken nachgab und sie die wuchtige und von allen bisher geöffneten breiteste Schublade aufzog und Judith mit dem Strahl der Taschenlampe hineinleuchtete.
Dieses Mal ließ Ellen einen anerkennenden Pfiff hören, während sie in dem alten Schubfach herumwühlte, eine ganze Reihe von Gegenständen daraus hervorkramte und sie auf der dunklen Platte ablegte. Schließlich regte sich auch meine Neugier in der gemischten Tüte aus Gedanken und Gefühlen, die ich an diesem Kiosk der Verzweiflung erstanden hatte, und ich trat an den Tisch heran, um Ellens Ausbeute in Augenschein zu nehmen.
»Jetzt wird es interessant.« Judith griff nach einem alles andere als altertümlich scheinenden Schlüsselbund mit einem knappen halben Dutzend Schlüssel für Zylinderschlösser, reichte ihn an mich weiter und hielt nacheinander ein paar lose Blätter ins schwache Licht. »Das sind Rechnungen«, sagte sie. »Keine zwei Jahre alt. Irgendetwas ist mit dem Burgtor gemacht worden … «
Ich legte den Schlüsselbund zurück, trat hinter sie und starrte konzentriert über ihre Schulter auf die beiden Blätter in ihren Händen. Gekränkt bemerkte ich, wie sie ein kleines bisschen zusammenzuckte und einen kurzen, nervösen Blick in meine Richtung warf, als ich ihr so nahe kam, aber ich nahm keine Rücksicht darauf, sondern versuchte das Kleingedruckte auf der Rechnung der Baufirma Johannes Lohmann, Crailsfelden, im schlechten Licht angestrengt zu entziffern.
»Offenbar ist das Burgtor, das unsere beiden Rennfahrer um ein Haar aufgespießt hätte, vor zwei Jahren erst überholt worden«, stellte sie schaudernd fest.
»Versteht ihr das? Kontaktplatten im Innenhof für Fallgatter « , zitierte sie und verlas den Preis. »Außerdem steht hier etwas von einer Fernsteuerungstechnik. Und da hat der Bauunternehmer noch etwas per Hand dazugeschrieben: Achtung! Unfallgefahr durch sehr schnell herabfallendes Gatter – keine Haftungsübernahme, da Gestaltung auf ausdrücklichen Wunsch des Kunden erfolgt ist. «
»Das … das bedeutet, dass sich der Bauunternehmer absolut bewusst darüber war, was für eine wahnwitzige Falle er da baut«, sagte ich leise und versuchte vergeblich, den bitteren Geschmack herunterzuschlucken, der sich auf meiner Zunge ausgebreitet hatte. » Zur Kenntnis genommen und einverstanden, Zahlung erfolgt binnen der kommenden vierzehn Tage, Professor Klaus Sänger « , verlas ich die Gegenzeichnung, die das Dokument abschloss.
»Davon hat uns Carl überhaupt nichts gesagt.« Verärgert legte Judith die zwei Seiten umfassende Rechnung auf den Tisch
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