Nemesis 04 - In dunkelster Nacht
Dolch auf dem Schreibtisch unter dem Giebelfenster ab.
»Weißt du, ich glaube weder an den Weihnachtsmann, noch an die Märchen, die du so erzählst.« Ellen lächelte zynisch in Carls Richtung. »Du setzt dich jetzt brav aufs Bett und hältst die Klappe. Und nur für den Fall, dass du glaubst, du hättest mit einer schwachen Frau leichtes Spiel, möchte ich dich daran erinnern, dass ich als Chirurgin allein im Bereich deines Torsos sieben Stellen kenne, an denen ein Messerstich binnen einer Minute zum Tod führt.«
Ich lächelte. Es war nicht das erste Mal, dass die Ärztin einen Spruch in dieser Richtung vom Stapel ließ, aber sie machte mir damit deutlich, dass sie wieder in der Rolle steckte, in der ich sie von allen am besten ertragen konnte, und dass sie den Ansatz zu einer neuerlichen Panikattacke schnell überwunden hatte und wieder zu Topform auflief.
Carl zog sich wie ein geprügelter Hund zum gegenüberliegenden Bett zurück und ließ sich schwer darauf niederplumpsen. »Ihr werdet noch begreifen, dass ihr den Falschen schikaniert«, prophezeite er düster. »Aber dann wird es zu spät sein.«
Judith trat schwankenden Schrittes an meine Seite, legte mir einen Arm um die Schultern und stützte sich auf mich, während wir auf den Flur hinaustraten. Vielleicht war ich unfair, aber ich hatte den Verdacht, dass sie durchaus in der Lage gewesen wäre, aus eigener Kraft zu gehen und nicht halb so stark dabei zu schwanken, wenn sie nur gewollt hätte, und dass sie die Gelegenheit nutzte, um sich an mich schmiegen zu können. Aber selbst wenn es so war, sollte es mir recht sein: Der Macho in mir genoss ihr Verhalten. Es gab mir ein Gefühl von Stärke.
Ich begleitete Judith in ihr Zimmer, damit sie sich frische Kleider aus ihrem Koffer holen konnte. Erst in dem Augenblick, in dem wir das kleine Internatszimmer betraten und ich instinktiv einen sichernden Blick in den Schatten hinter der Tür warf, wurde mir bewusst, dass ich mich frag- und klaglos von Ellen hatte entwaffnen lassen.
Weshalb hatte sie eigentlich darauf bestanden, dass ich den Napola-Dolch bei ihr zurückließ? Carl hatte Recht gehabt, als er sie darauf hingewiesen hatte, dass es albern war, ihn mit gleich zwei rasiermesserscharfen Klingen zu bewachen, von denen eine fast ellenlang war. Chirurgin hin oder her – ich bezweifelte, dass sie vorhatte und in der Lage war, den Wirt im Zweifelsfall mit zwei Waffen gleichzeitig zu attackieren. Ob sie mich der Morde an Stefan und Eduard verdächtigte? Das war doch völlig absurd!
Aber was auch immer sie dazu bewegt hatte, mir den Dolch abzunehmen, hatte zur Folge, dass ich nun unbwaffnet war und mich auf einmal schrecklich wehrlos fühlte. Wenn der Mörder, den wir suchten, hier irgendwo lauern sollte, dann würden wir ihm völlig ausgeliefert sein. Wir waren allein! Hatten wir uns nicht vorhin in der Küche noch darauf geeinigt, dem Attentäter keine solche Gelegenheit mehr zu bieten, sondern zusammen zu bleiben? Warum hatte ich eigentlich nicht schon daran gedacht und einen entsprechenden Entschluss durchzusetzen versucht, als die Ärztin mich mit Carl im Untergeschoss zurückgelassen hatte, spätestens aber, als sie mich mit ihm in den Duschraum geschickt hatte? Ob Ellen vielleicht doch selbst –
Warum ließ ich das Denken nicht einfach völlig bleiben, schalt ich mich selbst. Heute kam allem Anschein nach ohnehin nichts Vernünftiges mehr dabei heraus. Sie hatte Angst vor Carl, nicht mehr und nicht weniger hatte sie sich dabei gedacht, als sie mich gebeten hatte, ihr sowohl das Tranchiermesser als auch den Dolch zu überlassen. Ich musste die Ruhe bewahren und durfte nicht zulassen, dass blinde, zumindest für den Augenblick völlig grundlose Panik mein Denken bestimmte.
Die Schelte, mit der ich mich im Stillen selbst bedachte, fruchtete nicht. Dass ich beide Waffen bei Ellen zurückgelassen hatte, konnte über Leben und Tod entscheiden; es wäre nicht das erste Mal, dass der Mörder eine Situation, wie sie die Ärztin nun organisiert hatte, ganz genau abpasste, um über einen von uns herzufallen und ihn umzubringen, und zwar ganz genau mit derselben Waffe, die Ellen von mir gefordert hatte. Ob das wirklich Zufall war? Ob sie mich auch um die Herausgabe meiner Klinge gebeten hätte, wenn ich statt des Dolches eines der kleinen Gemüsemesser bei mir getragen hätte? Ellen hätte Gelegenheit gehabt, in die Küche hinaufzulaufen und Ed zu töten, nachdem die Decke im Keller eingestürzt war.
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