Nemesis 04 - In dunkelster Nacht
Kopf. »Da war nichts«, antwortete ich und versuchte meiner Stimme einen beruhigenden Tonfall zu verleihen, was mir infolge meiner eigenen, fast im Minutentakt wechselnden, bei alledem aber immerfort angespannten Verfassung kläglich misslang.
»Ich habe die ganze Zeit über im Eingang zur Dusche gestanden. Von dort aus konnte ich den Flur entlang sehen. Wenn dort jemand gewesen wäre, dann hätte ich ihn bemerkt.«
»Ich weiß, was ich gehört habe«, beharrte Ellen stur.
»Hast du es auch gehört?« Ich wandte mich seufzend Judith zu.
Ellen war so aufgeregt, dass ich ihr wahrscheinlich auch ein peinlichst datiertes Farbvideo der vergangenen halben Stunde von dem Flur hätte vorspielen können, ohne dass sie auch nur die Möglichkeit in Betracht gezogen hätte, dass ich unter Umständen Recht haben könnte.
Judith schüttelte schwach den Kopf. Immerhin, stellte ich fest, hatte sie jetzt ein kleines bisschen mehr Farbe im Gesicht.
Wunderbar, dachte ich bei mir. Judith hatte Fieber, und Ellen begann an ihrer Stelle zu fantasieren. Ihr Zusammenbruch im Hof hatte uns ein zweites Mal lebhaft demonstriert, wie aufgesetzt ihre Härte und Unerschütterlichkeit war, und wie wackelig der Schutzwall, hinter dem sie sich zu verstecken pflegte, aber ich hatte geglaubt, dass sie sich zumindest im Augenblick bis auf weiteres im Griff hatte und ich mich auf sie verlassen konnte. Und nun passierte so etwas!
Als hätte sie meine Gedanken gelesen, suchte Ellen meinen Blick, um ihm herausfordernd standzuhalten und reckte mir kampflustig das Kinn entgegen. Sie suchte Streit, aber ich würde ihr keinen Anlass dazu geben.
»Vielleicht war ja tatsächlich jemand auf dem Flur«, sagte ich nachgiebig und zuckte mit den Schultern.
»Schließlich habe ich auch Carl in der Dusche beaufsichtigt. Ich konnte den Flur nicht die ganze Zeit über im Blick behalten, und bei dem dämlichen Gesabbel, was er von sich gegeben hat, hätte ich wahrscheinlich nicht mal ein Nilpferd hinter mir tanzen hören.«
Für die Dauer eines Lidschlags wirkte Ellen irritiert – anscheinend hatte sie sich der Auseinandersetzung, auf die sie wohl aus war, um ihre Verspannung ein wenig zu lösen, sicher gewähnt und war regelrecht enttäuscht über meine Bemerkung, auf die sich keine ausgiebige Konversation aufbauen ließ. Ihre nächsten Worte bestätigten meinen Eindruck: Sie versuchte mich von einer anderen Seite her zu provozieren.
»Du solltest gleich noch einmal unter die Dusche«, sagte sie mit einem betont deutlichen Naserümpfen. »Du siehst aus wie ausgekotzt und riechst auch dementsprechend. Voller Dreck und Blut. Nimm Judith mit, sie wird wohl Hilfe brauchen.«
Vielleicht spürte Judith so deutlich wie ich, dass Ellen nur darauf wartete, dass einer von uns ihr einen Ansatzpunkt gab, auf dem sie einen Streit aufbauen konnte, wahrscheinlich war sie aber schlicht und einfach zu schwach, um gegen Ellens ruppige, befehlshaberische Art aufzubegehren. Jedenfalls erhob sie sich mit einem tiefen Seufzer vom Bett, wobei ihre Beine deutlich zitterten. Die Vorstellung, mit ihr unter der Dusche zu verschwinden, erregte mich. Ihre Schwäche und Hilflosigkeit, die Tatsache, dass sie mir in wenigen Augenblicken vollkommen ausgeliefert sein würde, törnte mich an.
Ich wandte erschrocken den Blick von ihr ab. Verdammt, das war nicht ich! Das war wieder dieser widerliche kleine Sadist, der Carl in der Küche beinahe gefoltert hätte! In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie solche abartigen Fantasien gehabt, und ich fühlte mich fast wie ein Vergewaltiger, ohne Judith auch nur berührt zu haben. Sie war eine attraktive Frau, obwohl sie ein paar Pfund zu viel auf den Rippen hatte, das stand außer Frage. Sie war keine kühle Schönheit wie Ellen, aber sie konnte sich durchaus sehen lassen. Sie war eben nur etwas weiblicher gebaut, das war es, was mich erregte. Das war das Maximum dessen, was ich mir selbst eingestehen durfte.
»Der Dolch bleibt hier«, bestimmte Ellen.
»Aber ich bin doch kein Kettenhäftling!«, begehrte Carl auf und deutete auf das Tranchiermesser in der Rechten der rothaarigen Ärztin. »Zwei Messer, um mich in Schach zu halten! Verdammt noch mal! Hört doch auf, so zu tun, als sei ich ein Killer! Das ist jemand anderes.
Vielleicht Maria, vielleicht auch jemand, den wir alle gar nicht kennen und der ein perverses Vergnügen daran hat, uns zu quälen. Wenn er das nächste Mal angreift, werdet ihr mich vielleicht noch brauchen.«
Ich legte den
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