Nemesis 04 - In dunkelster Nacht
es nie etwas, also würde man hier auch nach nichts suchen. Wo hätte das Nazi-Gold sicherer sein können, als in den Katakomben einer bedeutungslosen Burg? Wer hätte hier schon suchen wollen? In den bayerischen Seen hat man gesucht, und in Bergwerken in Thüringen. Aber hier ...?« Er schüttelte den Kopf. »Die Militäranlagen mit ihren Tunnelsystemen hat man untersucht und zum Teil sogar zu NATO-Stützpunkten gemacht. Aber ein Müttergenesungsheim und eine Schule – dafür interessierte sich niemand. Und die Lkw-Kolonne damals, die kam bei Nacht und Nebel hier an und ist genauso unauffällig wieder verschwunden. Vielleicht sind die Männer alle tot, die bei diesen Transporten dabei waren. Die SS hat auch in den letzten Kriegstagen noch Hinrichtungen vorgenommen, und wen kümmerte im Chaos des Untergangs des Tausendjährigen Reiches schon der Tod von ein paar Dutzend Soldaten? Wisst ihr eigentlich, was für immense Schätze im Krieg spurlos verschwunden sind?
Tonnenweise Gold, kostbare Gemälde, das Bernsteinzimmer ... Auch das Zahngold aus den Konzentrationslagern wurde nicht vollständig gefunden. Unter unseren Füßen kann alles Mögliche liegen. Wir sitzen hier auf einem riesigen Schatz! Und genau das ist auch der Grund für die Morde! Der Killer weiß von diesem Schatz, und er will euch, die Erben, aus dem Weg räumen. Deshalb wurde Ed in der Küche umgebracht, aber ich wurde verschont.«
Ich fühlte mich regelrecht überrannt vom Redeschwall des Wirtes, doch ich war standhaft genug, hinter der scheinbaren Plausibilität dessen, was er uns weismachen wollte, den Zweck seiner Geschichte zu erkennen. Dazu reichte mir schon das Bewusstsein, dass er es geschafft hatte, geschickt von Judiths eigentlicher Frage abzulenken, die auch die meine gewesen war. Ich würde sie allerdings nicht wiederholen. Carl wollte nicht darauf eingehen, also würde er es nicht freiwillig tun, und ich wollte nicht wieder Gewalt anwenden und Gefahr laufen, meine Gefangenschaft in dieser Burg letztendlich gegen eine Zelle im Knast der nächstbesten Großstadt einzutauschen, weil ich selbst einen Mord auf dem Gewissen hatte. Dennoch waren wir durch Carls Erklärungen vielleicht zumindest ein bisschen näher an die Wahrheit über diese verfluchte Festung herangekommen. Und immerhin kannte sich wahrscheinlich niemand besser hier aus, als der dicke Wirt, und er hatte schließlich schon von Anfang an von diesem sagenumwobenen Nazi-Schatz gefaselt.
»Wenn niemand davon weiß, dann kann es aber auch keinen wahnsinnigen Mörder geben«, wandte ich schließlich ein.
»Das ist jemand, der eins und eins zusammenzählen kann wie ich und ein bisschen über die Geschichte der Burg Bescheid weiß«, behauptete Carl. »Vielleicht kommt der Mörder ja aus dem Dorf.«
»Das passt alles nicht richtig zusammen«, widersprach Judith. »Ihr vergesst die Fotos, die wir gefunden haben.
Dieser Doktor Sänger, der mit Eds Vater, diesem SS-Mann, auf einem Bild war. Die haben doch beide mit der Burg zu tun gehabt, und sie haben beide den Krieg überlebt. Vielleicht war die Sache mit der Schule nur eine Tarnung, um in den Besitz der Burg zu gelangen und dann heimlich den Schatz zu bergen, aber dann hätten sie doch Jahrzehnte dazu Zeit gehabt, alles hier herauszuholen.«
»Nein.« Carl schüttelte entschieden den Kopf. »Wenn es sich um Kunstschätze handelte, dann wäre die Ware viel zu heiß gewesen. So etwas kann man nicht einfach verkaufen. Da muss man abwarten.«
»Unsinn!«, entfuhr es Judith. »Es gibt einen riesigen, illegalen Kunstmarkt. Wenn ein berühmtes Gemälde in einer Privatsammlung verschwindet, wer bekommt das schon mit? Und wenn es hier nur Goldbarren und Zahngold gab, dann war es erst recht kein Problem, die Werte verschwinden zu lassen. Im Zweifelsfall hätte man das Gold sogar einfach einschmelzen und zu neuen Barren gießen können, um die Reichsadler auf den Nazigoldbarren verschwinden zu lassen. Du rennst hier einer Illusion nach, Carl. Das hier ist kein Piratenfilm, es ist die Wirklichkeit!«
»Sie ist der Spur der Kinder gefolgt«, flüsterte Ellen unvermittelt. Statt sich an der Diskussion zu beteiligen, hatte sie sich die ganze Zeit über intensiv mit den Akten und Büchern beschäftigt. »Wenn man sich die Stellen ansieht, die sie angestrichen hat, dann geht es meistens um Kinder«, erklärte sie etwas lauter und direkt an uns gewandt. »Die Stelle, die ich euch vorgelesen habe – es ging um vergaste Kinder, deren Leichen
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