Nemesis 04 - In dunkelster Nacht
und Judith hatten Bücher an sich genommen, während Carl einen weinroten Aktenordner in den Händen hielt. Als der Wirt bemerkte, dass ich ihn beobachtete, hielt er mir den Hefter hin und begann weiter in Marias Koffer zu wühlen. Ich schlug die Mappe auf und blätterte sie flüchtig durch. Mir saß deutlich die Angst im Nacken, dass ich auf noch tragischere, noch unmenschlichere Schicksale treffen könnte. In Klarsichtfolien waren sorgsam einzelne Fotos eingeschoben, die blonde Knaben in Hitlerjugenduniformen zeigten, die hinter Papierwimpeln hermarschierten.
»Erinnert mich doch glatt an was.« Carl warf mir ein gehässiges Grinsen über die Schulter hinweg zu. »Diese netten Pfadfinderfotos aus den Fünfzigern. Blonde scheinen besonders anfällig für diesen Quatsch zu sein.«
Ich spürte, wie sich mein Magen ein weiteres Mal binnen kürzester Zeit schmerzhaft zusammenzog und schmeckte wieder bittere Galle auf der Zunge. Meine konternden Worte blieben mir als würgender Kloß im Hals stecken, sodass ich sie nicht mehr auszusprechen in der Lage war. Ich war nie ein Pfadfinder gewesen, begehrte ich innerlich auf. Ich war ein Wehrdienstverweigerer, hatte mich erfolgreich um meine alberne und, wie ich fand, von der Zeit längst überholte Pflicht, meinem Vaterland zu dienen, geschickt gedrückt. Keine Lüge, keine Ausrede hatte ich gescheut, um mich nicht nur von ihr, sondern auch gleich noch vom Zivildienst freisprechen zu lassen. Ich hatte zu diesem Zwecke gelernt, perfekt die absurdesten Krankheiten zu simulieren, denn ich hätte mich nie im Leben dazu herabgelassen, mit ein paar hundert stupiden, kahl geschorenen erwachsenen Spielkindern in Reih und Glied zu marschieren und Gefahr zu laufen, über viele Monate hinweg eingepfercht in einer Kaserne aus lauter Verzweiflung ans andere Ufer zu wechseln. So etwas war nie mein Ding gewesen, blond und blauäugig hin oder her!
Ich legte den Ordner beiseite und zog eine andere, diesmal eine blaue Akte aus dem Koffer hervor, die halb unter einem Satz Unterwäsche verborgen lag (Baumwollschlüpfer, ich hatte richtig geraten). Menschenversuche, stand in Marias ordentlicher Handschrift auf dem Aktendeckel. Ich hätte den Ordner am liebsten gleich wieder in den Koffer zurückfallen lassen, als ich dieses Wort las und die Abbildungen aus dem Lebensborn-Bildband wieder vor meinem inneren Auge aufflimmerte. Doch das hätte bedeutet, mich erneut Carls lauernden Blicken und sicher auch einer seiner weiteren unfairen Bemerkungen auszusetzen. Ich verstand nicht, warum ich mich Carl auf einmal so ausgeliefert fühlte, so verwundbar, warum ich nicht Partei für mich ergriff, obwohl mir doch das schlichte, aber unwiderlegbare Argument auf der Zunge lag, dass ich mir die Genketten, die für meine Haut-, Haar- und Augenfarbe zuständig waren, nicht selbst ausgesucht, mir mein Erbgut nicht online im Biotechnik-Großhandel bestellt hatte. Es war nicht meine Schuld, dass ich dem Musterbild eines Ariers entsprach, und außerdem war es auch kein Verbrechen. Aber das, was ich gerade gesehen und gelesen hatte, verschlug mir buchstäblich die Sprache, rüttelte eine ungerechtfertigte Scham darüber in mir wach, dass ich mit großer Wahrscheinlichkeit über ein paar Dutzend Ecken mit irgendeinem dieser kranken Hirne blutsverwandt war, die in ihrem stumpfen Idealismus an den grauenhaften Taten des Zweiten Weltkrieges Anteil hatten, vielleicht sogar an den perversen Projekten, die man in diesen angeblichen Musterheimen für elternlose, zu einem offenbar nicht unerheblichen Teil schlichtweg gestohlenen, unschuldigen Kindern realisieren wollte.
Es gab Kopien von Dokumenten in der Akte, auf denen der Reichsadler mit Hakenkreuz und SS-Runen prangte.
Formblätter, auf denen das Grauen verwaltet wurde. Sie erinnerten mich stark an die Papiere, die wir im Keller gefunden hatten. Mein Blick blieb an einem Namen hängen: Ein Siegfried Krefft bedankte sich förmlich in einem mit Wasserzeichen und Stempel versehenen Schreiben bei seinem Doktorvater Professor Doktor Schrader für die Bereitstellung des nötigen Untersuchungsmaterials für seine Dissertation mit dem Titel: Über die Genese der Halsmuskelblutung beim Tod durch Erhängen. Angewidert blätterte ich weiter, aber meine Hoffnung, auf etwas Appetitlicheres zu stoßen, wurde bitter enttäuscht. Stattdessen erfuhr ich auf der nächsten Seite detailliert, wie mit Hilfe eines Flaschenzuges unter wissenschaftlicher Aufsicht Hinrichtungen durchgeführt
Weitere Kostenlose Bücher