Nemesis 04 - In dunkelster Nacht
bisschen einschüchtern konnte. Tatsächlich wich Carl ein Stück vor mir zurück, und daran tat er wirklich gut, denn, Respekt hin oder her, ich hätte keine Sekunde gezögert, ihm ein weiteres Mal die Fresse zu polieren, sollte er noch einmal auf die Idee kommen, meinen persönlichen Schützling Judith auch nur verbal zu attackieren. »Sieh du die Sachen durch, Judith«, forderte ich sie auf.
Judith nickte stumm und schob diskret ein paar Kleidungsstücke beiseite, aber es war offensichtlich, dass sich zwischen den zerwühlten Klamotten keine weiteren Bücher oder Akten mehr befanden, und somit auch nichts, was irgendjemanden von uns etwas angegangen wäre.
»Was genau ist hier am Ende des Krieges eigentlich passiert, Carl?«, fragte Ellen in ruhigem, sachlichem Tonfall. »Was waren das für Lastwagen, von denen du erzählt hast? Gibt es noch Gräber aus der Kriegszeit auf dem Dorffriedhof?«
Ich schüttelte verständnislos den Kopf und blickte die Ärztin mit offen stehendem Mund an. Ich konnte nicht begreifen, dass sie die primitiven Spielchen, die Carl nur zu offen mit uns spielte, noch immer nicht durchschaute – der aufgeschwemmte Kerl log doch, sobald er den Mund aufmachte! Vielleicht aber war auch ich derjenige, der Tomaten auf den Augen hatte und deshalb, gerade umgekehrt, das Spiel nicht begriff, das die Ärztin mit ihm und auch Judith und mir spielte. Verdammt, wer wusste das schon!
Der Wirt kratzte sich einen Augenblick lang scheinbar nachdenklich am Kinn. Eine Eins für Schauspielkunst, dachte ich bei mir. Hätte er uns nicht schon ein paar Dutzend Male zuvor das Blaue vom Himmel heruntergelogen, hätte ich ihm vielleicht tatsächlich abgenommen, dass er ernsthaft über Ellens Frage nachdachte. Wer verarschte hier eigentlich wen?
»Also, Gräber gibt es keine, soweit ich mich erinnere«, antwortete der Wirt schließlich gedehnt. »Ich habe nie welche gesehen und weiß das natürlich auch nur aus Erzählungen. Wir hatten hier im Tal immer den tiefsten Frieden. Manchmal konnte man nachts das Brummen der Bomber hören, aber hier gab es keine Luftangriffe, keine Flak und keine Scheinwerfer. Hier war nichts. Und deshalb gab es eben keine Luftangriffe. Die Wehrmacht hat auch nicht versucht, Crailsfelden zu verteidigen, als die Alliierten hier Anfang 45 einfach durchmarschiert sind.« Er runzelte gekünstelt die Stirn. »Allerdings gab es Geschichten darüber, dass beim Bau der unterirdischen Anlagen ein paar Arbeiter umgekommen sind. Die hat man aber nicht auf dem Dorffriedhof beigesetzt. Die Nazis werden sie wohl irgendwo hier am Burgberg verscharrt haben – um Zwangsarbeiter hat man damals kein großes Aufhebens gemacht.«
»Und was ist mit den Lastwagen, von denen du erzählt hast«, hakte Ellen nach. Ich spürte, dass sie sich um die Ruhe, mit der sie sprach, bemühen musste.
Carl starrte zur Tür, als fürchtete er, wir könnten belauscht werden. Obwohl es beileibe keinen Grund dazu gab, senkte er seine Stimme zu einem Flüstern, als er weitersprach, und setzte damit seinem theatralischen Auftritt noch die Krone auf, der es eigentlich gar nicht mehr bedurft hätte, um sich selbst denkbar unglaubwürdig zu machen.
»Nicht lange, bevor die Alliierten gekommen sind, kamen jede Menge Lastwagen der Wehrmacht aus dem Osten«, behauptete er. »Die waren voll beladen! Mein Vater hat sie mit eigenen Augen gesehen. Irgendetwas haben die Nazis hier auf die Burg geschafft, selbst als die Amis schon ganz in der Nähe waren. Und auf der Kuhweide vom ollen Grüters ist ein Fieseler Storch gelandet – der Pilot muss wirklich Nerven gehabt haben! Der ist auf einer Wiese am Hang gelandet. Angeblich hat dort eine Limousine gewartet, so ein fetter Citroen. Grüters hat dann beobachtet, wie eine Kiste aus dem Flugzeug geladen wurde, und dann ist der Storch mit zwei von den Herren Doktoren oben aus der Burg abgeflogen.«
»Und was war deiner Meinung nach in der Kiste?«, fragte Ellen, die nach dem kleinen Vortrag von Anekdoten aus dritter Hand, die Carl vermutlich in seiner Dorfschenke gesammelt hatte, einen genervten Unterton nun auch nicht mehr gänzlich unterdrücken konnte.
Carl grinste breit. »Bestimmt nicht Hitlers Tagebücher«, antwortete er, wurde aber dann wieder ernster.
»Die haben doch schon 44 nicht mehr an Wunderwaffen und den Endsieg geglaubt. Wer die Möglichkeit dazu hatte, hat zugesehen, dass er seine Schäfchen schnell noch ins Trockene bringt.«
»Du willst mir doch nicht erzählen, dass
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