Nemesis 06 - Morgengrauen
über den Flur zu schieben begann, und trotzdem musste ich nicht zur Seite blicken können, um mit großer Sicherheit zu wissen, wohin man mich brachte: zurück in das Krankenzimmer, das mein Gefängnis geworden war. Gab es denn überhaupt kein Entkommen aus dieser Hölle?
Das konnte nicht sein. Es gab immer einen Ausweg. Es musste einen Ausweg geben! Das gehörte zu den Spielregeln des Lebens!
Ich schloss die Augen, um mir das Hirn zu zermartern und mich im Lauf meiner Gedanken dieser Welt, auf die ich keinen Einfluss zu haben schien, zu verweigern. Ich musste mich sammeln und klare Gedanken fassen, allen emotionalen Obstsalat von mir abschütteln und mich auf das Objektive konzentrieren. Ich hatte etwas übersehen.
Da war etwas, an das ich die ganze Zeit über nicht gedacht hatte – ein entscheidendes Detail, das ungemein wichtig war, vielleicht sogar überlebenswichtig. Flucht war möglich. Ich musste nur ... Ich musste mich hingeben? Sollte ich dem Tier in mir freien Lauf lassen? Durfte, musste ich mir das gestatten? War es das, was in mir bohrte? War das nur der Schmerz, den der Tumor zu verantworten hatte, der Schaden, den er angerichtet hatte und immer weiter vergrößerte, oder war da mehr? Da war irgendetwas in mir verborgen – aber ich hatte das Gefühl, den Schlüssel dazu verloren zu haben. Wenn ich es befreien konnte, wenn ich die Tür aufbrach, dann würde ich auch mich befreien können.
Ich kicherte stumm in mich hinein. Was für eine gequirlte Scheiße! Ich begann, wahnsinnig zu werden, und das wohl nicht erst seit dem Elektroschock. Das Tier in mir befreien? Was für ein Humbug!
»Frank, du schaffst es immer wieder, mich zu verblüffen«, erklang eine mir mittlerweile vertraute Stimme neben mir. Professor Sänger! »Dieser Fluchtversuch mit einer Kugel im Leib, die dich fast umgebracht hätte ... Das ist wirklich bemerkenswert. Und der Weg, den du gewählt hast ...« Der Alte lachte leise. »Es ist fast so, als wolltest du mir zuallerletzt noch beweisen, dass alles in dir steckt, wonach ich so lange gesucht habe. Aber jetzt müssen wir dir ein wenig Ruhe verschaffen. Ich möchte mir gerne noch etwas anderes ansehen, dazu solltest du besser schlafen.«
Aus den Augenwinkeln sah ich, wie jemand eine Spritze aufzog. Was hatte der Professor gemeint, als er gesagt hatte, er wolle sich etwas ansehen, wozu ich schlafen sollte? Doch nicht etwa etwas, das Teil meines Körpers war? Wieder flammten Ausschnitte der Bilder aus den Anatomiesälen vor meinem geistigen Auge auf.
Natürlich nicht, verhöhnte ich mich voller Sarkasmus selbst. Der Alte sprach von unzüchtigen Videos, von schmuddeligen Filmchen mit Jugendschutzbestimmungen im Vorspann.
Etwas stach in meinen Arm, und bleierne Müdigkeit umfing mich. Meine Glieder wurden schwer und taub, die Bilder vor meinen Augen verwischten und wichen schließlich absoluter Finsternis. Das Letzte, was ich wahrnahm, ehe ich vollkommen wegtrat, war Sängers Stimme, die zu einem der Ärzte sprach.
»Bereiten Sie alles vor«, befahl der Alte. »Ich möchte, dass wir in fünf Minuten so weit sind.«
Als ich die Augen wieder aufschlug, befand ich mich erneut in meinem Krankenzimmer. Mein Fluchtversuch, der so jäh an einem Elektroschock gescheitert war, hätte ohne weiteres ein Traum gewesen sein können, zumal ich mich an keinen anderen erinnern konnte, hätte ich nicht statt in meinem Bett fest angeschnallt auf einer fahrbaren Krankentrage gelegen.
Professor Sänger stand neben mir. Er hatte die Hände auf dem Rücken verschränkt und hielt sich so gerade, als hätte er einen Stock verschluckt, so dass er für sein Alter eine geradezu erschreckende Vitalität ausstrahlte. Die eitrigen Augen hinter der großen Sonnenbrille verborgen, die wie undurchdringliche schwarze Schutzschilde in seinem Gesicht zu kleben schienen, sah man ihm nicht an, dass er weit über achtzig, vielleicht über neunzig sein musste, und ich hätte in diesen Sekunden einiges dafür gegeben, einmal durch seine Augen sehen, einmal mit seinem Hirn denken zu können. Vielleicht war es allerdings das Beste, dass das ein Ding der Unmöglichkeit war.
Mit seiner aufrechten Haltung und der riesigen Brille wirkte er wie ein überdimensionales Insekt, ein cleveres, gegen alle Insektizide der Welt resistentes Ungeziefer, das das von der Natur vorgegebene Gesetz vom Fressen und Gefressen werden auf seinen ersten Bestandteil reduziert hatte.
Ich war müde, und da war auch wieder dieser bittere
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